Großstadtcouture

Ich bin nie ein wirklich rebellisches Großstadtkind gewesen, zumindest nicht ein solches, wie ich es mir als auch nicht ganz vorurteilsfreier Mensch vorstelle. In meiner Fantasie, an der vielleicht etwas Wahres dran sein mag, chillen die rebellischen Großstadtkinder tagein tagaus in den düsteren Silos außerhalb des glamourösen Stadtzentrums. Dort treiben sie sich in zwielichtigen Ecken herum, hantieren mit Graffitispraydosen, spielen Basketball auf steinernen Bolzplätzen (Fußball ist in meiner Fantasie eine eher ländliche Sportart) und hören Musik von Aggro Berlin.
Oh ja, so düster kann die Großstadt sein.

Woran erkennt man ein echtes rebellisches Großstadtkind? Auch wenn diese Spezies oft vorgibt, mit Mode nichts am Hut zu haben, zeichnet sie doch ein gewisser, sicherlich bewusst gewählter Kleidungsstil aus. Neulich verkleideten sich meine Schulkameraden und ich  im Rahmen der Abitur-Mottotage als sogenannte „Azzlacks“ und schlurften dementsprechend in weiten Jogginghosen, Sportsocken, Adiletten und mit Pennyplastiktüte am Arm durch die Gegend. Komplettiert wurde jedes Outfit durch die obligatorische Cap, die besonders bezeichnend für den Azzlack-Stil ist. Zumindest ist das die Klischeevorstellung, die man als gediegener Mensch vom rebellischen Großstadtkind hat.

Interessant ist an dieser Stelle jedoch, dass die Cap neuerdings auch bürgerliche Milieus erreicht hat – um nicht zu sagen: die Cap ist das Accessoire of the moment. Wer sich heutzutage als modebewusster Mensch, der auch gern bei Weekday und Comme des Garçons shoppt, in der Hamburger Schanze oder Berlin-Mitte ohne Cap auf dem Haupte auf die Straße wagt, hat ganz offensichtlich den heißesten Trend der Saison verschlafen. Die avantgardistischen Herren von Dandy Diary sieht man jedenfalls nur noch mit besagter Kopfbedeckung umher wandeln, sogar Acne hat sternenbedruckte Kappen im Sortiment, Supreme ist eine der begehrtesten Marken des Jahres – und nun ist auch noch dieser hervorragende Modefilm unter dem Titel Homegame erschienen, in dem hübsche Jungs, die mir ganz nach rebellischen Ghettokids aussehen und natürlich Basketball spielen, Caps tragen. Was lernen wir also? Die Modewelt erlebt derzeit eine Fusion der einstigen Vorstadtsilouniform mit feinster Couture. Dass es dazu eines Tages kommen würde, war selbstredend vorherzusehen, denn die Mode liebt Kontraste.

Und nun möchte ich von meinem Kunstprojekt erzählen. Inspiriert von dem omnipräsenten Captrend, der Liaison dieses eigentlich eher prolligen Kleidungsstücks mit modischer Raffinesse, und den zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten, die die Cap tatsächlich bieten kann, entstand in Kooperation mit meiner liebsten Kumpeline Mira das Projekt „Großstadtcouture“. Dass natürlich auch der großartige Cap-Künstler Deryck Todd großen Einfluss auf unsere Arbeit hatte, sei an dieser Stelle treuherzig verraten. Allerdings erfolgte der entscheidende eigene Input durch die Ergänzung jedes Cap-Modells, das wir entwarfen, um ein entsprechendes Kleid, als Verkörperung der neuartigen Symbiose von Streetwear und Couture. Die insgesamt achtteilige Kollektion besteht aus jeweils vier Kappen und vier Kleidern – jeweils inspiriert durch ein besonders Element, einen bezeichnenden Aspekt der Großstadt. Da hätten wir nun also die mit Kulleraugen bestückte Cap plus Kleid unter dem Titel „The city is watching you“, in Anlehnung an die Überwachung durch Kameras und Millionen von Augenpaaren, der wir Großstadtmenschen permanent ausgesetzt sind. Das „Big-city-lights“-Modell, übersät von knallbunten flauschigen Pompoms, steht für die üppige Farbigkeit der großen Metropole, während die „Ghettoglamour“-Cap in Kombination mit dem entsprechenden Kleid den Kontrast zwischen rauem Ghettoalltag (daher die Sicherheitsnadeln) und glitzerndem Großstadtglamour (daher die Schmucksteine) symbolisieren soll. Die mit schillenderen Pailletten gestaltete Kappe, kombiniert zum Kleid mit Schallplattenspieleraufdruck, ist hingegen schlicht und ergreifend ein Ausdruck des wahnsinnigen Vergnügens, dass eine Partynacht in der Großstadt mit sich ziehen kann.

Und wenn ich diese kleine Kollektion nun so betrachte, dann denke ich: vielleicht bin ich doch ein echtes Großstadtkind. Vielleicht sind wir das heute alle, wenn wir mit origineller Cap auf dem Kopf das Haus verlassen und so tun, als wären wir furchtbar rebellisch, obwohl wir doch eigentlich nur wieder einem neuartigen, wahrscheinlich flüchtigem Trend der Modewelt verfallen sind. Doch warum auch nicht? Ich habe durch dieses spaßige Kunstprojekt die Cap wahrlich lieben gelernt. An grauen Tagen kann man sich herrlich unter dem großen Schirm verstecken, düster drein schauen, so viel man will, und lauthals zur aus den Ohrstöpseln tönenden Hiphopmusik mithipphoppen. Manchmal bin ich eben nicht in der Stimmung für charmante Eleganz.  Und falls doch, so kann ich zur Cap ja immer noch das passende Kleid anziehen.

Alle Bilder: Leon Burmester

Links: „The city is watching you“, rechts: „Big city lights“ 

Links: „Ghetto Glamour“, rechts: „The Party“