Ist sexy tot?

FRAG ICH MICH GERADE


Neulich stieß ich in der Uni-Bibliothek auf halber Treppe mit einer ungefähr 45-jährigen Studentin zusammen. Meine Gegenüber, mit ungekämmtem Wisch auf dem Kopf und umweltverträglichen mausgrauen Leinen am Leib, blieb ob der Beinahe-Kollision wie angewurzelt stehen, trat einen Schritt zurück und musterte mich angewidert. Ich trug an jenem Tag einen blauen Herrenpulli zu Minirock, nackten Beinen und schwarzen Stiefeletten mit Absatz. Die Mausgraue öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schnappte nach Luft und sagte dann völlig unvermittelt:

„Sie müssen sich sofort etwas anderes anziehen!“

„Wie bitte?“

Sie funkelte mich so wütend an, als hätte ich gerade vorgeschlagen, ihr Eine-Welt-Leinenhemd als Putzlappen für die Mensa-Küche zu zweckentfremden. Dann holte sie Luft und stieß hervor:

„Weil! Das ist gefährlich!“

Gefährlich! Vor Erstaunen wäre ich fast von der Treppe gefallen. Ich habe ja schon viele Kommentare zu meinen mitunter merkwürdigen Outfits bekommen, aber dass von meinen Kleidern Gefahr ausgehen könne, hörte ich zum ersten Mal. Dann verstand ich: statt „gefährlich“ hatte die Dame wahrscheinlich „sexy“ sagen wollte. Bloß ist sexy in der öffentlichen Wahrnehmung heutzutage offenkundig so unsexy, dass man nicht einmal mehr das Wort in den Mund nehmen will.

Kaum ein Kleidungsstil ist heute unterrepräsentierter als jener der Verführung. Vom Mainstream bis zur kleinsten modischen Minderheit ist auf der Straße fast alles vertreten: bunte Menschen in Leggins und Chucks, elegante Frauen in Bleistiftröcken, Jugendliche und Junggebliebene in Sportanzügen, Gruftis in schwarz, Spießer in blau-weiß-kariert. Nur von der wirklich sinnlich gekleideten Frau fehlt jede Spur, es sei denn, man ist in Mailand und Fausto Puglisi lädt zur Modenschau.

Sogar in Paris wird sexy auf der Straße zur Sensation: als ich dort einmal in meinen Overknee-Stiefeln durchs Marais lief, pfiffen mir mehrere Müllmänner hinterher, drei Araber versuchten mich nachdrücklich ins Hinterzimmer ihrer Falafelbuden zu locken und beim Passieren eines Basketballplatzes hätte ich doch am liebsten kurz mal eine Burka übergeworfen. Im sportlichen Berlin ist es noch schlimmer: stilsicher-verführerisch gekleideten Damen begegne ich hier nie, zwischen geschmacklos und modisch ist das Angebot dünn, und modisch, das heißt heute: reduziert, voluminös und keinesfalls körperbetont.

Das ist überhaupt ein Phänomen unserer Zeit: mit größtem Eifer bekämpft die junge, modebewusste Damenwelt jeden noch so leise lodernden Funken kleidsamer Sexyness. Wenn wir schon mal in ein Minikleid steigen, muss das Ganze gleich unbedingt mit jungenhaften Sneakern kompensiert werden. High Heels zu nackten Beinen? Viel zu reizend! Zumindest die klassische Art der modischen Verführung, wie sie uns nach wie vor in vielen Editorials der Hochglanzmagazine vorgeführt wird, hat mit dem realen Modegeschehen unserer Zeit – also jenem, das auf der Straße existiert – so gut wie nichts mehr zu tun. Der Lässigkeit zuliebe ist die Sexyness dort nämlich längst ausgestorben.

Ich ärgere mich ja immer wieder, die 70er und 80er Jahre dank eines blöden Zufalls nicht miterlebt haben zu dürfen. Zu gern hätte ich gewusst, wie es sich anfühlt, ganz ohne Skrupel freizügig gekleidet herumzulaufen: so wie Amy Adams als Sydney Prosser in „American Hustle“ beispielsweise, mit feuriger Lockenmähne und einem Dekolleté bis nach Zentralafrika. Man stelle sich mal vor, die Berliner Modemädchen wären heute in solch sexy Aufzug auf der Torstraße unterwegs!

Aber was heißt sexy überhaupt? Der klassischen Definition nach bezeichnet das Attribut einen Kleidungsstil, der indirekt zum Sex verführen soll. Also Kleidung, die Männern gefällt. Die allgemein verbreitete These dazu lautet ergo: Frauen, die sich sexy kleiden, degradieren sich selbst zur Verkaufsware. Wenn sexy heute tot ist, heißt das dann, dass die weibliche Emanzipation endlich vollbracht ist? Dass wir uns endlich so anziehen, wie es primär uns selbst gefällt, und nicht unseren Bettgenossen?

Das ist in der Tat eine schöne Vorstellung.

Allerdings tue ich mich irgendwie schwer damit, eine Frau wie Sydney Prosser, mit ihren wallenden Locken und dem metertiefen Ausschnitt, wirklich unemanzipiert zu finden. Sieht sie nicht einfach toll aus? Und ist Tollaussehen nicht eigentlich unsere wichtigste Geheimwaffe? Wenn wir diese Waffe ablegen, nur um in unseren Schlabberhosen, Badelatschen, Bomberjacken und Sackkleidern besonders lässig und androgyn und cool auszusehen, muss das dann nicht heißen, dass wir uns bloß dem Stil der Männerwelt unterwerfen? Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint das Aussterben der Sexyness doch plötzlich gar nicht mehr so emanzipiert. Selbst wenn wir in verführerischen Outfits die Aufmerksamkeit der Müllmänner und Araber erregen – tun wir uns damit nicht auch selbst einen Gefallen?

Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen ich mich in Berlin doch mal im kurzen Kleid zu hohen Schuhen auf die Straße wage, stellt sich nach kurzer Gewöhnung an die skeptischen Blicke (die man tunlichst ignorieren oder dreist erwidern sollte) tatsächlich immer wieder ein großartiges Gefühl der Unbesiegbarkeit und Euphorie ein. Allein mit High Heels an den Füßen wirkt man nicht nur größer, sondern bewegt sich auch auf der Stelle anders, die Silhouette des Körpers verschiebt sich zu einem schwungvollen S, der Gang wirkt temperamentvoller. Warum diesen Umstand nicht zum eigenen Vorteil, zum Beispiel zur Steigerung des persönlichen Selbstbewusstseins nutzen? Sinnliche Kleidung zu verschmähen, nur weil sie selbst auf westlichen Straßen nach wie vor als Eklat betrachtet wird, ist tatsächlich nichts weiter als die Leugnung der eigenen Sinnlichkeit – und damit ziemlich unemanzipiert. Zudem bietet uns die Mode heute im Bereich verführerischer Kleidung mehr Variantenreichtum denn je: das zeigen nicht nur die Editorials der Magazine, die erotische Kleidung auf oftmals sehr spritzige und ironische Weise inszenieren. Sondern auch die vielen Designerinnen, die neue Mode für ihre eigene Generation, die sexy Frau des 21. Jahrhunderts entwerfen: Rosie Assoulin, Katie Ermilio, Charlotte Olympia, Nicky und Simone Zimmermann.
So cool kann gefährlich sein.

Von oben nach unten: Rosie Assoulin Sommer 2014, Katie Ermilio Winter 2014, Zimmermann Sommer 2014