Fransenhut im Katzenkäfig

ZUM DINNER IN "KITTY'S CANTEEN": TEIL 2 DER SERIE "ABSEITS NEW YORK"

Wer an einem Freitagabend in New York richtig ausgefallen essen gehen will, der sollte auf jeden Fall seinen EPS dabei haben – seinen Expressive Personality Suit. Das findet jedenfalls Richard Kimmel, Gastgeber des Restaurants Kitty’s Canteen. Um als gutes Beispiel voranzugehen, hat sich Kimmel selbst heute richtig schön in Schale geworfen. Er trägt einen violetten Morgenrock mit Sanduhren-Print und ausladendem Pelzkragen. Um den Kopf hat er einen gestreiften Seidenschal geknotet, vor der Brust klimpern klobiger Schmuck und bedruckte Anhänger, auf der Nase sitzt eine lila Weltraumbrille. Der Mann sieht aus wie eine extravagante Puffmutti. Das Outfit passt zum Ambiente: wir sind hier schließlich nicht in irgendeinem Schuppen gelandet. Kitty’s Canteen hat erst vor wenigen Monaten in der Bowery eröffnet, und bisher dürfte sich dorthin noch kaum ein Tourist verirrt haben. Denn in der Stanton Street Nummer 9 ist von außen nur eine schmuddelige Fassade mit zugezogenen roten Vorhängen hinter der Fensterscheibe zu sehen. Kein Schild. Kein Licht. Lebensweisheit Nummer 276: die aufregendsten Restaurants findet man immer noch hinter den unscheinbarsten Türen.

Mein guter Freund Patrick Duffy, Kultur-Journalist, Outthere Magazine-Autor, Gründer des Online-Journals Rogue, Personal Trainer von Rufus Wainwright und Gelegenheits-Drag, hat mich zu Kitty’s Canteen bestellt. Ich kenne Patrick von der Modewoche in Kopenhagen. Er ist der enthusiastischste und unterhaltsamste Mensch, der mir je über den Weg gelaufen ist. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, begrüßt er mich mit einem inbrünstigen „Hysteria! You look AMAZING!“. Patrick ist in New York ein bunter Hund und mit gefühlt jeder Straßenlaterne bekannt. Richard Kimmel, ebenfalls ein illustres Unikat der Stadt, ist ein guter Freund von ihm. Man kennt sich noch aus alten Zeiten. Richard ist nebenher auch Produzent des legendären New Yorker Nachtclubs The Box, wo Patrick mal gearbeitet hat. Und heute testen wir also seine Katzenkantine.

Richard Kimmel und Haustier

Die New York Times hat das Konzept von Kitty’s Canteen in einem Satz punktgenau zusammengefasst: „A jazz bar and Jewish soul-food joint that looks like a New Orleans bordello run by a religious cat lady“. Hinter der schmutzigen roten Eingangstür entpuppt sich die Hausnummer 9 nämlich als Etablissement der exotischeren Art.

Um eins vorweg zu nehmen: ich bin wirklich kein Katzenfan. Ich traue Katzen nicht über den Weg. Im einen Moment schnurren sie freundlich, im nächsten zerkratzen sie dir das Gesicht. Einmal habe ich in den Sommerferien für ein paar Wochen den Kater meiner Nachbarn gefüttert, ein schwarzes Exemplar namens Dromedar. Zum Dank für die Bewirtung biss mich Dromedar ins Bein.

Richard Kimmel scheint in dieser Hinsicht allerdings nur gute Erfahrungen gemacht zu haben. In seinem Restaurant ist jeder Winkel dem Katzenthema gewidmet. In jeder freien Wandnische steht eine Katzenfigur aus Porzellan, eine Lampe mit katzenbedrucktem Schirm oder irgendein anderer Katzennippes. Nur echte Katzen müssen draußen bleiben. Das Konzept geht auf: Kitty’s Canteen sieht endlich mal nicht aus wie all die anderen Hipsterstuben, die man zurzeit in sämtlichen Szenevierteln von Berlin bis Buenos Aires so findet. Bei Kitty’s Canteen gibt es keine gemeinschaftlichen Holztische, keine pseudo-rustikalen Menütafeln, keine nackten Glühbirnen an der Decke oder bärtigen Mützenträger hinter der Bar. Stattdessen steht hinter dem mit bunten Flaschen bestückten Tresen eine Lady mit korallfarbenem Fransenhut auf dem Kopf. Patrick ist noch nicht da. Ich setze mich an die Bar. Im Hintergrund ertönt Roberta Gambarinis raue Jazzstimme.„My name is Sobe“, sagt die schöne Barfrau. „What would you like to drink?“ 

„Pink Pussy“ lese ich auf der Menükarte. 16 Dollar. Die Preise passen zum gediegen-verruchten Ambiente. „I’ll have a Pink Pussy“, sage ich. „I like your cornrows„, sagt Sobe und grinst schelmisch. „My ex-girlfriend always used to braid my hair“, fügt sie hinzu,„but we broke up, unfortunately.“ Ein charmantes Augenzwinkern. Ich bin definitiv nicht lesbisch, aber wenn ich es wäre, dann würde ich mich als erstes bei Kitty’s Canteen umsehen. Während Sobe einen frischen Pink Pussy mixt, schwingt eine weitere Schönheit mit aufwendig aufgetürmtem Haarschopf und beeindruckendem Dekolletee vorbei. Sie trägt ein knallenges blau-rot-gemustertes Kleid, in dem der Hüftschwung besonders gut zur Geltung kommt. Eine hochgewachsene Inderin im glitzernden Mini-Dress führt uns zum Tisch. An den Wänden schillert eine goldene Pflanzentapete, zwischen den Blumenranken linsen schwarze Katzengesichter hervor. An der unverputzten Backsteinseite des kleinen Raums leuchtet ein Kirchenfenster aus Buntglas. Beim Händewaschen im Badezimmer kann man nicht ganz aufrecht stehen, so klein ist der Raum, dafür aber komplett verspiegelt und mit hunderten kleiner Kerzenlichter illuminiert; das gäbe einen schönen Hausbrand, zum Glück ist die Wasserquelle nicht fern.

„Ladies and gentleman, cats and kittens!“ Richard Kimmel trägt heute nicht umsonst seinen Expressive Personality Suit. Zu einem Abendessen in Kitty’s Canteen zählen auch die frei-improvisierten One-Man-Showeinlagen des exzentrischen Inhabers. „This is Josephine!“ stellt er seinen belustigten Gästen die flauschige Katzenpuppe auf seinem Arm vor, mit Miniatur-Sonnenbrille und Bademantel natürlich ebenfalls stilecht in einen EPS gekleidet.

„Be polite, Josephine, say hello to our guests!“

Ich pruste in meinen rosa Cocktail.

„Tonight is the night of the nights!“ verkündet Richard Kimmel und rauscht mit dramatisch fuchtelnden Armen durch den Raum. „It’s the night of the MAMA-Manifesto – Make Art Modern Again!“

Am Nebentisch sitzen vier Geschäftsmänner in dunklen Anzügen. An der Bar ein elegantes Künstlerpaar, an einem anderen Tisch eine Gruppe modisch gekleideter New Yorkerinnen. Kitty’s Canteen ist kein Sammelplatz schrulliger Außenseiter, sondern ein Hotspot kultivierter Großstädter mit Wertschätzung für originelle Orte abseits des Mainstream-Abendprogramms, das auch in New York in so schaurigen Läden wie Bungalow 8 oder dem Gramercy Park Hotel ziemlich seelenlos enden kann. Bei Kitty’s Canteen wird man nicht enttäuscht: das Restaurant übertrifft jede Erwartung, die man an einem Freitagabend an diese wilde Stadt stellen könnte. Als Krönung obendrauf ist, ganz nebenbei bemerkt, auch noch das Essen großartig, wobei die Nahrungsaufnahme bei all der Aufregung natürlich ein bisschen in den Hintergrund rückt. Zu empfehlen ist der Brioche-Burger mit Sweet-Onion-Relish. Von allem anderen darf man sich hier aber gut und gerne überraschen lassen. In der Katzenkantine gleicht nämlich kein Abend dem anderen. Hauptsache, man hat seinen EPS dabei.

Adresse: 9 Stanton Street, zwischen Bowery und Chrystie Street, Lower East Side. 
Bilder via NY Times und Kitty’s Canteen. Headerbild via NY Times