Heiliges Frühstück

IM KAMPF GEGEN DAS AUSARTEN DER BRUNCH-KULTUR


Foto: Hannah Whitaker für die New York Times

Wenn es in New York etwas gibt, das mich wirklich fertig macht, dann ist es die Brunch-Kultur. Ich komme mit dieser Mahlzeit nicht klar. Brunch bedeutet technisch gesehen die Zusammenlegung von Frühstück und Mittagessen – beides kulinarische Aktivitäten, mit denen man mich grundsätzlich immer locken kann. Überhaupt gehöre ich zu jenen Menschen, die eigentlich ständig essen können, selbst wenn sie gerade erst gegessen haben.

Einmal war ich mit zwei Freundinnen in Istanbul. Wir gingen abends hinunter an den Bosporus, um eines dieser fantastischen Fischbrote zu essen, die man dort direkt vom Grill bekommt: Seebarsch fangfrisch aus dem Fluss gefischt, mit Tomaten und Salat auf Weißbrot. Ich könnte mich reinlegen.

Solch ein Sandwich ist gar nicht klein, aber weil es so köstlich war, sagte ich, nachdem wir aufgegessen hatten und gerade mit dem Genießen der Aussicht auf Istanbul beginnen wollten: „Und jetzt noch eins!“ Ich sagte es in einem Tonfall heiterer Ironie, aber natürlich war der Vorschlag todernst gemeint. Keine meiner Mitreisenden war begeistert. „Nein danke“, sagte T., „aber guten Appetit.“ Der Abend endete ohne weitere Mahlzeiten. So viel also dazu: ich kann wirklich immer essen. Natürlich tue ich das aus Gründen der gesellschaftlichen Konvention, dass mehr als ein Fischbrötchen pro Dinner unsittlich wäre, nicht. Auch die Wahrung meiner sportlichen Figur hält mich von größeren Schlemmereien ab. Ansonsten: immer her mit dem guten Essen.

Aber wo war ich stehen geblieben? Richtig, beim Frühstück. Da können wir allerdings gleich in Istanbul bleiben, denn ebenso, wie sich meine Freundinnen weigerten, größere Dinner-Gelage zu veranstalten, schienen sie auch keinen großen Wert auf das Frühstück zu legen. „Wir holen uns Obst“, sagten sie, als wir morgens auf der Straße über die Tagesplanung diskutierten. Manchmal bin ich ein richtiges Herdentier. „Super“, sagte ich und kaufte einen Pfirsich. Dabei knurrte mein Magen bedrohlich; ich hätte einen ganzen Lieferwagen Kellogg’s Cornflakes verschlingen können. Wie können die Leute bloß das Frühstück ausfallen lassen? Ich kenne tausende, die täglich mit leerem Magen ins Büro gehen. Komischerweise sind die trotzdem nicht dünner als ich, und so viel gesünder sehen sie auch nicht aus.

Ich halte viel vom Frühstück. Tatsächlich gehört die Aussicht auf Frühstück zu den wenigen Motiven, die mich morgens um 7 Uhr aus dem Bett locken können. Da liegt man zwischen den warmen Laken, hundemüde und psychisch völlig erschlagen von der schrecklichen Tatsache, dass man gleich aufstehen und sich den Hürden des Alltags stellen muss. Das ist die 7-Uhr-Depression, die ich übrigens von meinem Vater geerbt habe. Von dem habe ich allerdings auch gelernt, warum es sich doch lohnt, irgendwann aufzustehen: weil ein guter Tag mit einer großen Schale Müsli, einer heißen Tasse Kaffee und der neuen Zeitung beginnt. Das mag nach einem spießbürgerlich konventionellen, typisch deutschen Frühstück klingen. Für die meisten Leute, die ich so kenne, wäre ein Tagesbeginn dieser Art allerdings geradezu originell. In Berlin wie in New York.

Vielleicht ist diese Haltung ein Metropolen-Phänomen? Denn um zum Ausgangspunkt dieses Artikels zurück zu kommen: während die meisten New Yorker unter der Woche das Frühstück ausfallen lassen, verabreden sie sich am Wochenende zu ausschweifenden Brunch-Orgien. Aber Brunch beginnt hier nicht, wie es logischerweise zu vermuten wäre, um 11 Uhr. Oh nein. Was der New Yorker unter der Woche an Schlaf verpasst hat, muss am Sonntagmorgen schließlich nachgeholt werden. Also kein Brunch vor 13:30 Uhr. Und komm bloß nicht pünktlich, denn New Yorker sind immer zu spät – eine halbe Stunde nach verabredetem Treffpunkt schreiben sie dir „In the cab now!“. 

Wenn Brunch eine Zusammenlegung von Frühstück und Mittagessen ist, dann muss das auch bedeuten, dass man vorher nichts isst. Aber was tun als Frühaufsteher? Vielleicht wurzelt darin meine Inkompatibilität mit New Yorker Brunch-Gewohnheiten: selbst wenn ich am Abend zuvor bis in die Puppen unterwegs war, wache ich morgens nie nach 10 Uhr auf. Meistens sogar schon um 9. Dann liegen mein knurrender Magen und ich im Bett herum und fragen uns, wie wir bis 14 Uhr ohne Nahrung überleben sollen.

In der New York Times regt sich an diesem Wochenende ganz passend zum Thema David Shaftel über das Ausarten der New Yorker Brunch-Kultur auf. „Brunch is the mealtime equivalent of a Jeff Koons sculpture“, schreibt er und spricht mir damit aus der Seele. Brunch in New York beginnt nämlich oftmals nicht nur erst um die Zeit, zu der meine Großmutter in Deutschland längst mit der Zubereitung des Abendbrots beschäftigt wäre, sondern beinhaltet in der Regel auch eine Alkohol-Flatrate. Man zahlt einen Festpreis und kann dafür so viele Mimosas zu seinen Eggs Benedict bestellen, bis man endgültig vergessen hat, was man das ganze Wochenende eigentlich so getrieben hat.

Brunch ist ein typischer Nicht-Fisch-und-nicht-Fleisch-Fall, eine irgendwie obszöne Zwischenlösung aus Afterhour, Frühstücksei und Sonntagsfestessen. In New York wird die Mahlzeit als wochenendliches Gelage ohne Zeitdruck zelebriert, dabei ist es tatsächlich einfach nur nervig, sonntags um 14 Uhr vor Hunger völlig geschwächt und an Halluzinationen von Rührei und Pancakes leidend vor einem heillos überfüllten Café herumzustehen und auf seine Brunch-Freundinnen zu warten, die angeblich alle auf dem Weg sind, tatsächlich aber noch im Bett liegen. „Come back in an hour“, sagt dann auch noch die gestresste Platzanweiserin,„we don’t have any space at the moment.“ In solchen Momenten finde ich New York richtig anstrengend.

Natürlich wurzelt dieses Dilemma in einem entscheidenden Punkt: dass der Mensch die Gewohnheit hat, ein Gewohnheitstier zu sein. Ich bin es gewohnt, morgens um 7, am Wochenende um 10 aufzustehen und eine große Portion Müsli zu essen, bevor ich auch nur einen Schritt vor die Tür setze. In New York gibt es Leute, die nicht einmal wissen, was Müsli ist. Und Großstädte sind ohnehin nicht dafür bekannt, einen regelmäßigen Tagesrhythmus einzuhalten.

 

Wie wichtig ein gutes Frühstück aber tatsächlich ist – bekanntlich soll man ja morgens wie ein Kaiser und abends wie ein Bettelmann essen – das hat nun, quasi als Unterstützung von David Shaftels Brunch-Verriss, die Fotografin Hannah Whitaker festgehalten. Von Japan über Malawi bis Brasilien fotografierte sie, was Kinder in jenen Ländern zum Frühstück essen. Das Projekt zeigt, wie aufregend die erste Mahlzeit des Tages sein kann. Es dokumentiert auch, wie früh sich Frühstücksgewohnheiten festigen: in Indien ist es zum Beispiel ganz normal, morgens erstmal einen Teller Curry mit kleinen Reiskuchen namens Idli zu essen, während in westlichen Ländern eher Süßes wie Cornflakes und Marmeladenbrot bevorzugt wird, wohingegen der türkische Nachwuchs zum Frühstück Oliven isst und japanische Kinder gegrillten Lachs vorziehen.

Vor allem aber sehen wir an diesen appetitanregenden Bildern eines: dass Kinder nämlich die wahren Hüter des heiligen Frühstücks sind. Weil Siebenjährige morgens um 7 Uhr längst putzmunter sind, würden sie, genau wie ich, niemals das Frühstück ausfallen lassen. Das wiederum muss dann wohl zweierlei bedeuten: dass ich erstens anscheinend immer noch ein Kind bin – nicht einer von diesen coolen Erwachsenen, die am Sonntag bis zur Abenddämmerung ausschlafen. Und dass ich zweitens ganz sicher eines Tages selbst ein Kind (oder mehrere) in die Welt setzen werde. Damit ich bei Brunch-Einladungen endlich eine gute Ausrede habe und sagen kann: keine Zeit, ich bin schon mit Mini-Clairette zum Frühstück verabredet.