Big Apple

INNERER MONOLOG AUS DEM LAND DER UNBEGRENZTEN SUPERMÄRKTE

New York City, Donnerstagnachmittag, 5 PM Ortszeit. Ich trete aus der Bibliothek der NYU. Ein scharfer Herbstwind fegt über den Washington Square. Genug studiert. Ich habe ein bisschen Hunger. Lunch war doch gerade erst? Ich überschlage im Kopf, was ich heute schon alles gegessen habe: Oatmeal zum Frühstück, Chicken Wrap zum Mittagessen, vor einer Stunde ein Açaí-Smoothie; wie New Yorkerisch kann man eigentlich werden nach nur drei Monaten in dieser Stadt? Egal, jetzt erstmal einkaufen. Wie alle New Yorker und Wahl-New Yorker ist mein Kühlschrank zuhause leer bis auf einen halbvollen Becher Joghurt und eine Tüte Tiefkühlblaubeeren. Ich esse schrecklich gern, aber zum Kochen bin ich zu ungeduldig. Und in New York speist sowieso keiner zuhause, alle gehen ins Restaurant, macht mehr Spaß. Aber gestern kam die Kreditkartenabrechnung, und da ist mir wirklich der Appetit vergangen. Jetzt erstmal kein Dinner auswärts. Ab in den Supermarkt.

„Eat like an idealist“, begrüßt mich ein inspirierendes Schild am Eingang der Whole Foods Filiale auf der Houston Street. Moooment. Bevor ich reingehe: Was will ich kaufen? Ich habe heute Abend keine Zeit zum Kochen. Also eine Suppe. Und vielleicht ein Bagel. Und ein Apfel. That’s it. Da gebe ich heute ganz bestimmt nicht mehr als 10 Dollar aus. Beschwingt von der Aussicht auf künftigen Geldsegen dank strenger Sparpolitik betrete ich das Geschäft.

Leider habe ich meine Rechnung ohne die Verführungskunst amerikanischer Supermärkte gemacht.

Amerikanische Supermärkte sind supergeil. Aber wirklich. Dagegen wirkt de durchschnittliche deutsche Edeka-Filiale wie eine ausrangierte DDR-Kaufhalle. Als erstes durchquere ich die Obst- und Gemüseabteilung. In einem riesigen Bottich leuchten knallrote Cranberries wie frisch vom Strauch gepflückt. Ein Gebirge makelloser Hochglanzäpfel, schöner als bei Schneewittchen, riesig sind sie auch, wie aufgeblasene Luftballons, in identischer Form wie Tennisbälle. Bananen kann man sich quasi selbst wie im Regenwald von der Palme ernten, sie hängen, illuminiert in warmem Tropenlicht, an silbernen Haken auf Augenhöhe, darunter kunstvoll aufgetürmte Ananas, Kokosnüsse, Melonen. Meterlange Regale voll transparenter Kunststoffboxen mit frischen Himbeeren, Blaubeeren, gewürfelter Papaya, in New York hat schließlich kein Mensch Zeit, sich sein Obst selbst zu schnippeln. Welche Jahreszeit haben wir noch gleich? Egal. Die Schachtel Himbeeren kostet im November $4,99. Selber Schuld, wer die kauft.

Mist. Ich hätte wirklich mal wieder Lust auf Himbeeren.

Auf der gegenüberliegenden Seite das Gemüseregal: grüne und gelbe Zucchini, Paprika nach Farben sortiert und fein säuberlich diagonal übereinander geschichtet. Sieht aus wie gemalt. Alle fünf Minuten werden die Schoten von einem feinen Sprühregen geduscht, nebenan tropfen nasse Salatköpfe und Radieschen. Ich denke an das frisch geerntete Gemüse auf südfranzösischen Wochenmärkten, Ratatouille könnte ich doch mal wieder kochen, und gleich im Regal daneben gibt es die Zwiebeln bereits vorgeschnippelt, wie praktisch. Herrlich. Ich hasse Zwiebeln schneiden.

Was wollte ich nochmal kaufen?

Grüner Spargel! Wir haben November. Wo haben sie diesen Spargel her? Du wirst keinen grünen Spargel im November kaufen. Aber ich lieeebe grünen Spargel… Nein! Kein grüner Spargel im November. So was unterstützen wir nicht!

Kale. In New York sind alle verrückt nach Kale. Es gibt Kale-Smoothies, Kale-Suppe, Kale-Wraps, Kale-Salat, Kale-Taboule, Kale-Chips, Kale-Cookies. „Grünkohl?! Im August?!“, hat mich meine Mutter entsetzt am Telefon gefragt, als ich ihr im Sommer von der New Yorker Kale-Obsession erzählte. Sie dachte an den deutschen Grünkohl-Eintopf, den man ungefähr 3 Tage kochen lässt und ebenso lange verdauen muss. Ich bin kein Fan von Grünkohl, aber in Amerika macht mich der Trend neugierig. Vielleicht sollte ich doch mal Kale-Salat probieren? Bei Whole Foods gibt es ein fünf Meter langes Regal prall gefüllt mit Plastikboxen leuchtend grüner Blätter, präsentiert wie DVDs in der Videothek. Und alles local.

Im Tiefkühlregal gibt es Veggie Burger aus Kale und Quinoa, gluten-free, und garantiert ohne cholesterol. Die auf der Packung abgebildete Gemüsefrikadelle sieht irgendwie schimmlig aus, muss am Grünkohl liegen. Aber die Marke heißt Dr. Praeger Sensitive Foods, das klingt doch sehr vertrauenserweckend. Vom Doktor empfohlen.

Überhaupt ist die Tiefkühlabteilung bei Whole Foods besonders spannend. Ich könnte sowieso mal wieder was Tiefgekühltes essen, ganz authentisch im Stil des gestressten Großstädters. Chicken Taquitos. Burritos, light in sodium. Burritos, gluten-free. Wie gesund macht eigentlich ein glutenfreier Tiefkühl-Burrito? Aber immerhin, die Packung sieht schön aus. Ganz authentisch mexikanisch.

Ui, was haben wir hier? Edamame Dip. Ein Ausflug zu Whole Foods ist immer wieder ein erleuchtendes Erlebnis. Man kann dort Sachen entdecken, von deren Existenz man bis dato noch nicht einmal etwas ahnte.

Gleich nebenan: ein ganzes Regal voller Hummus. Hummus ist, neben Grünkohl und Quinoa, die aktuelle New Yorker Trendspeise. Zurzeit ist überall in der Stadt die Werbekampagne der Hummus-Firma Tribe zu sehen, die mit frechen Slogans wie „If you don’t like it, send it back. We’ll eat it“ oder „There’s good hummus. There’s great hummus. And there’s the Tribe. The Cavier of Hummus“ auf sich aufmerksam macht. Tribe hat eine ganze Kollektion an ausgefallensten Hummus-Kreationen im Angebot: außer der Classic Version – gluten-free! – gibt es die Variationen Extra Smooth Classic, Zesty Spice & Garlic, Spicy Red Pepper, Mediterranean Style, Roasted Garlic, Sweet Roasted Red Peppers, Spicy Chipotle, Forty Spices, Cracked Chilly Peppers, Mediterranean Olive, Everything Hummus, Lemon Rosemary Foccacia und, für Gourmets mit besonders anspruchsvollem Gaumen, Limited Batch Infused Olive Oil Hummus. Während meine libanesischen Vorfahren sich angesichts dieser Schändung ihres Nationalgerichts vermutlich im Grabe umdrehen, scheint bei den Amerikanern ein besonderes Verlangen nach Kichererbsenpüree in sämtlichen Geschmacksrichtungen zu bestehen. Außer Tribe und zig weiteren Hummus-Fabrikanten hat Whole Foods auch eine hauseigene Marke im Angebot. Damit auch garantiert kein Hummus-Jünger unbefriedigt bleibt.

Was wollte ich noch mal kaufen?

Ach ja. Suppe. Bei Whole Foods gibt es bereits vorgekochte Suppen im Kühlregal, allesamt organic, local, gluten-free, low-fat, light in sodium, free of cholesterol, was tun sie eigentlich in diese Suppen, wenn die doch alle free von X und Y sind?

Auf dem Weg zu den Suppen komme ich an den Milchprodukten vorbei. Neben Joghurt aus böser Kuhmilch, der hier in sämtlichen Fette-Graden – von 10% Greek Style über 3,5%, 2%, 1% bis zu fat-free erhältlich ist, scheint sich das dairy-free Milchregal besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Außer Soy Milk, 5x Protein Almond Milk Plus und Coconut Milk gibt es auch Rice Dream zu kaufen, also Reismilch. Obwohl: darf man die eigentlich technisch gesehen noch Milch nennen? Reisfelder kann man doch nicht melken. Ich frage mich, was wir in diesem Regal wohl in fünf oder zehn Jahren finden werden – vielleicht Kamelmilch? Die ist dann bestimmt richtig trendy. Und was trank eigentlich der Steinzeitmensch, aktuell Vorbild Nr. 1 für Ernährungs-Gurus? Vielleicht Mammut-Milch? Lässt sich ein Mammut melken?

Was wollte ich ursprünglich noch mal kaufen?

Ich stehe an der Kasse, mit einer Tüte Kale, frischen Himbeeren, geschälten Karotten, Extra Smooth Classic Hummus, Carribean Jerk Shrimp Salad, einer Flasche Wild Maine Blueberry Vinaigrette, einer Packung Dark Chocolat Non-Dairy Frozen Dessert und vier knallgrün funkelnden Granny Smith Äpfeln.

Amerika ist das Land der unbegrenzten Supermärkte. In amerikanischen Supermärkten sieht es aus wie bei Chanel: jede Melone ist poliert, jede Banane gerade richtig gekrümmt, jede Tomate prall und rund, Mandelmilch heißt Almond Breeze, überzuckerte Müslimischungen sind mit komplett irreführenden Namen wie GoLean Crunch! oder verführerischen Titeln wie Organic Promise und Heart to Heart (sicher empfohlen vom Kardiologen!) gekennzeichnet.  Jede Ware wird speziell mit heiteren Schildern beworben, nur für den Fall, dass sich der Kunde noch nicht ganz sicher sein sollte, ob er heute wirklich eine Flasche Kokoswasser oder eine Packung Guacamole kaufen will. Am Avocado-Stand macht eine Hinweistafel auf die unwiderstehlichen Vorteile der Südfrucht aufmerksam: „Grown in Mexiko – deliciously buttery – a luxurious addition to salads and sandwiches – packed with nutrients and antioxidants.“ Sind echt super healthy, diese Avocados.

Und alles, aber auch alles, ist gluten-free. Mexikanische Mais-Chips kommen in der organischen Papiertüte, sprinkled with sea salt und garantiert ohne trans fats und gluten. Ich warte noch auf den Tag, an dem mich die Kassiererin bei Whole Foods freundlich darauf hinweist, dass ich meine Einkäufe heute in einer gluten-free Tragetasche nach Hause transportieren darf.

Auf dem Weg nach draußen merke ich, wie erschöpft ich bin. Amerikanische Supermärkte sind wie ganz Amerika: die reinste Reizüberflutung, ein Fest des Konsums, alles gibt es im Überfluss, in Übergrößen, in Familienpackungen, in zig verschiedenen Geschmacksrichtungen und Fette-Graden.

Wer soll das eigentlich alles essen?