Ich bin’s

WANN IST EIGENTLICH DAS TELEFONIEREN AUSGESTORBEN?

Silvester muss eine Höllennacht für die Telefongesellschaften gewesen sein. Ich habe ja keine Ahnung von elektrischen Leitungen und derlei Zauberei, aber ich stelle mir vor, wie sie bei 02 und Vodafon und Telekom und wie sie alle heißen ordentlich ins Schwitzen kommen, wenn zum Jahreswechsel um Punkt 12 Uhr Mitternacht die ganze Republik auf der Stelle simultan damit anfängt, Nachrichten durch das Land zu schicken. „Frohet neuet“, schreibt man sich da, versendet elektronische Kleeblätter und Herzen mit Pfeilen und Urknall-Emojis. An Silvester erlebt das beliebteste Hobby unseres Jahrhunderts höchste Konjunktur: Simsen. Whatsappen. iMessagen. FacebookMessengern. Mit Leuten kommunizieren war noch nie so einfach wie heute. Irgendwo anrufen – wie umständlich! – muss keiner mehr. Und doch scheint die omnipräsente Kurzmitteilung bei übermäßigem Genuss mehr Fluch als Segen zu bringen.

Weil gerade Silvester die Nacht der Textnachrichten ist, beginnt für viele Leute der erste Tag des Jahres mit schrecklichen Kopfschmerzen – und das nicht wegen zu viel Champagner. „Er hat nicht geschrieben“, greinte am vergangenen Neujahrsmorgen meine Freundin A. betrübt, weil es ihr Fast-Freund in ausgerechnet jener Nacht, in der kein Handy unbenutzt bleibt, gewagt hatte, seiner Fast-Freundin um Punkt 0 Uhr KEIN frohes 2015 zu wünschen. Den 1. Januar verbrachte A. in düsterster Schwermut, alle 3 Minuten auf den schwarzen Bildschirm ihres Telefons schielend.
Beispiele wie dieses zeigen, welch gefährliche Langzeitschäden die Textnachricht beim Menschen des modernen Zeitalters angerichtet hat. Freundin A. hat einen ganzen Tag darauf verschwendet, auf ein stummes Telefon zu starren – nichts, worüber ich mich lustig machen könnte, weil ich mich selbst selten anders verhalte. Einmal habe ich ein ganzes Wochenende lang getrauert, weil mir ein bestimmter Mensch aus heiterem Himmel nicht mehr auf eine WhatsApp-Nachricht antworten wollte. Am Montag schickte ich wutentbrannt eine zweite Meldung hinterher, nur um zu erfahren, dass der arme Mann mit Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus lag. Warum konnte ich nicht einfach anrufen?

© Tommy Ton

Textnachrichten bestimmen unser Leben. Anhand der Summe der SMS, die Du am Tag bekommst, lässt sich Dein gesellschaftlicher Status messen. Manchmal sitze ich im Restaurant Leuten gegenüber, die zur besseren Kontrolle ihres Zweitlebens – jenem, dass sich zwischen Wörtern und Emojis abspielt – ihr Handy gut sichtbar auf dem Tisch platziert haben. Alle 2 Sekunden macht es Dong und eine neue grüne Nachricht rutscht auf den Bildschirm. „Du bist aber beliebt“, sage ich dann und tue so, als wäre ich ein bisschen neidisch. Es gibt Menschen, die mehr Zeit damit verbringen, per Kurznachricht mit flüchtigen Bekannten Kontakt zu halten, als sich mit ihren echten Freunden zu unterhalten. „Ich bin im Stress“, klagt Freundin N. an ihrem Geburtstag, weil im Sekundentakt neue SMS herbeigeflogen kommen, die natürlich auf der Stelle beantwortet werden müssen. WhatsApp informiert den Sender der Nachricht per Doppelhäkchen, ob die Mitteilung bereits gelesen wurde. Damals, als noch telefoniert wurde, konnte man einfach nicht an den Hörer gehen, wenn man gerade mal keine Zeit oder Lust zum plaudern hatte. Heute werden wir ohne Unterlass mit Kurzmitteilungen irrelevanten Inhalts zugemüllt. Textnachrichten haben den Wert zwischenmenschlicher Kommunikation geradezu inflationiert.

Zudem hat die Kurzmitteilung auch dazu beigetragen, das herrliche Phänomen Langeweile ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so richtig schön gelangweilt habe. Als Besitzer eines Handys hat man schließlich immer was zu tun: WhatsApp checken, eine iMessage schicken, einen Facebook-Chat gründen, sogar auf Instagram kann man sich neuerdings unterhalten. Gerüchten zufolge sollen die Leute früher an der Bushaltestelle ihre zukünftigen Lebenspartner getroffen haben. Heute trifft sich hier keiner mehr, höchstens stoßen mal zwei zusammen, weil sie eben so schön in irgendeine Konversation auf einem ihrer zehn Kurznachrichtendienste vertieft waren und dabei nicht geradeaus schauen konnten.

Internet und Kurzmitteilung wurden erfunden, um der Menschheit das Leben zu erleichtern. Tatsächlich haben beide so manches komplizierter gemacht: es versuche mal einer, in einem Gruppen-Chat sieben Leute am selben Tag ins selbe Restaurant zu dirigieren und dabei noch den Durchblick zu behalten. Ebenso kann einen das plötzliche Ausbleiben einer Antwortnachricht in existenzielle Selbstzweifel stürzen. Letztes Jahr führte ich über Monate per WhatsApp eine virtuelle Fernbeziehung mit einem Libanesen, der manchmal im Sekundentakt Nachrichten schrieb, und dann wieder, je nach Laune, tagelang keinen Mucks von sich gab. Ich war selten so unproduktiv wie in jener Zeit, in der ich mir vorgaukelte, mit einem Menschen eine Beziehung zu führen – obwohl ich tatsächlich mit meinem Smartphone zusammen war, nicht mit einem Freund. Einmal rief er mich aus heiterem Himmel aus Abu Dhabi an. Ich war so verwirrt, als das Telefon klingelte, dass ich erst beim dritten Versuch dranging. „Ich bin’s“, sagte er und dazu fiel mir gar nichts ein. Wie ein Steinzeitmensch, der zum ersten Mal einem Telefonhörer begegnet.

Obwohl wir glauben, die SMS vereinfache zwischenmenschliche Korrespondenzen und ermögliche es auch über viele Zeitzonen hinweg, permanent in Kontakt zu bleiben, gibt es tatsächlich nichts, was mehr Zeit verschwendet, als nach Absenden einer Kurzmitteilung auf eine Antwort zu warten. Amelia Diamond hat das neulich in einem amüsanten Beitrag auf The Man Repeller ganz anschaulich geschildert: „The thought process of waiting for a text message“ erzählt mit beachtlichem Spannungsbogen ein iMessage-Drama in mehreren Akten. >>

© Charlotte Fassler

1. Akt: die hinterlistige Tastatur ihres Telefons tippt aus versehen „Heyt“ statt „Hey!“ Peinlich. Jetzt geht das Warten los. Was macht er wohl gerade?

2. Akt: „It’s been seven minutes. Totally normal. Seven minutes is only two minutes after five minutes which means that even if it takes three more minutes it’s only been ten minutes, and even if that turns into 15 minutes that’s okay because he might be finishing up a call or something.“ Nach 17 Minuten immer noch nichts. Wieso antwortet der nicht? Was hat sie wohl neulich beim Rendezvous nach dem zweiten Drink an beziehungsvernichtendem Blödsinn von sich gegeben?

3. Akt: das langersehnte PING ertönt. Sie schielt erwartungsfroh auf den Bildschirm. Es ist der Papa. Mit dem schreiben wir alle gern, der antwortet nämlich immer brav und das außerdem stets inklusive aller Satzzeichen und korrekter Rechtschreibung. ABER JETZT GERADE PASST ES NICHT!

4. Akt: Da. Er schreibt! Ist das aufregend. Jetzt bloß nichts falsch machen. Erstmal mindestens 10 Minuten lang andere Sachen erledigen. Kühlschrank öffnen, Kühlschrank schließen, Augenbrauen zupfen, Füße waschen, die Blumen gießen. So. Jetzt aber. Und was schreibt er?

„Hey!“. Mehr nicht. Eine verschlüsselte Botschaft? Will er eigentlich was anderes sagen? Wenn ja, was? Den Rest des Tages verbringt sie mit verschiedenen, hochkomplexen Interpretationsansätzen einer vermeintlich kryptischen Kurzmeldung in drei Buchstaben.

Ich frage mich: Wann ist eigentlich das Telefonieren ausgestorben? Wieso führen wir nicht alle fünf Tage mal ein richtig nettes Wortgespräch, anstatt uns alle fünf Minuten mit zweideutigen Nachrichten und absichtlich verspäteten Antworten gegenseitig in den Wahnsinn zu treiben? Telefonieren ist doch eigentlich herrlich: man kann dabei aus dem Fenster oder in den Fernseher schauen, sich auf dem Bett herum rollen, Fußnägel lackieren und nebenher anhand des Sounds der Stimme viel besser die Laune seines Gesprächspartners einschätzen. Wie hoch ist dagegen das Risiko, mit einer ganz trivialen Textnachricht für fürchterliche Missverständnisse zu sorgen? Ich kann mich an eine Kurzmitteilungskorrespondenz erinnern, bei der mein Schreibpartner hinter jeden Satz einen Smiley setzte. Hinter jeden Satz! Er hatte wohl Angst, ich könne ihn als Griesgram missverstehen.

Das schlimmste Symptom der Textnachricht aber ist die Feigheit, die wir uns damit erlauben. Wer heute noch telefoniert und sich seinem Gesprächspartner damit ohne Ausweg ausliefert, beweist geradezu Todesmut. Wer schreibt, kann stundenlang über die perfekte Nachricht nachdenken. Wer schreibt, kann stundenlang in sinnlosester Unproduktivität auf eine Textantwort warten – manchmal bis zum Sanktnimmerleinstag. Wer schreibt, kann auch mal nicht schreiben, wenn ihm/ihr keine coole Antwort einfällt – soll der andere sich seinen Teil halt denken. Derlei Marotten könnte man sich am Telefon nicht erlauben. Einen ganzen Tag über die perfekte Aussage sinnieren? Erst Jahre nach Erhalten einer Nachricht antworten? Oder einfach gar nichts sagen? Totenstille am Telefonapparat wäre merkwürdig. Totenstille beim Kurznachrichtendienst – kann schon mal vorkommen.

Entgegen aller technischen Errungenschaften der Neuzeit habe ich mir vorgenommen, im Jahr 2015 häufiger zum Hörer zu greifen. Nebenbei bemerkt ist Telefonieren auch viel gesünder für Haltung und Statur. Vom SMS-Schreiben werden wir alle irgendwann noch ganz schiefe Hälse bekommen. Dem Telefonat haftet dagegen fast ein Hauch von gediegenem Glamour an. Ich überlege, mir zur stilvollen Umsetzung meines Neujahrsvorsatzes gleich mal einen von diesen alten Apparaten aus den 50er Jahren zuzulegen, inklusive Drehschreibe und Telefongabel. Oder so ein weißes Plastikgerät, wie Carrie Bradshaw es gerne verwendet. Die besitzt übrigens auch einen Anrufbeantworter – noch so ein Utensil, das mal entstaubt werden könnte.

Streetstyle-Bilder: Tommy Ton für style.com