Nippel nach vorn

WEIL WIR DOCH SOWIESO ALLE NACKT IN UNSEREN KLEIDERN STECKEN


Wie die Leute in den Siebziger Jahren ausgesehen haben, das kann man heutzutage ganz einfach beim Besuch einer Zara-Filiale erfahren. Schlaghosen, Plateau-Sandalen, Lederwesten mit Fransen, Blusen mit Schnüren, Miniröcke mit Knöpfen – so war das also, in den wilden Siebzigern. Nur um eines machen sie in diesem aufgewärmten Seventies-Sommer sogar bei Zara einen großen Bogen: den berüchtigten Nipple Bra. Der BH mit aufgesetzten Fake-Brustwarzen kam um 1970 als Sensation auf den Markt:

„Our exclusive braless-look-bra is the very first bra to have its own built-in nipple. Imagine having that sensual cold weather look all the time. It’s so sexy, it’ll give your shape a whole new eye-opening dimension.“


Brustwarzen waren anscheinend mal so cool wie Schlaghosen. Was dann passierte, ist schwer zu sagen, jedenfalls muss eine Frau, die heute mit sichtbar unterm Hemd hervorspähenden Nippeln vor die Tür geht, mit skeptischen Blicken rechnen – vor allem vonseiten anderer Frauen. Neulich trug ich einen dünnen Rollkragenpullover ohne was drunter, meine Begleitung fand das obszön. Wieso eigentlich? Dass wir alle nackt in unseren Kleidern stecken, wie Oscar Wilde einmal schlau bemerkt hat, ist doch keine Neuigkeit. Und nach freizügig entblößter Haut dreht sich heute längst keiner mehr um. Spätestens seit Rihannas funkelndem Netzkleid, in dem sie im letzten Jahr bei der CFDA-Preisverleihung auftrat, gilt „der Körper als das neue Outfit“ (The Cut). Bei den Billboard Music Awards war Jennifer Lopez kürzlich in einer Robe zu sehen, die Bauchnabel, Brustansätze und umliegende Zonen so großzügig freilegte, dass dagegen selbst Kim Kardashians Met-Gala-Kleid aus ein paar Federn und Glitzersteinen geradezu hochgeschlossen erschien. Ich frage mich ernsthaft, wann wohl der erste Hollywood-Star komplett nackt auf dem Roten Teppich auftreten wird.

Die Mode wird immer langweiliger, viel Neues gibt es nicht mehr, nur noch Aufgewärmtes aus vergangenen Dekaden. Mit Kleidern zu rebellieren ist heute schwierig – für einen waschechten Skandal, so die Annahme, zieht man deshalb am besten so wenig wie möglich an. Aber was bei Rihanna noch eine Sensation war, ist mittlerweile zum Massentrend geworden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir die ersten Nacktkleider aus Netz und Glitzersteinen in Fußgängerzonen und auf Abibällen sichten werden. Vielleicht kann man sagen, dass nackte Haut noch nie so unspektakulär war wie heute.

Dagegen scheinen ausgerechnet perky nipples ein noch immer ziemlich skeptisch beäugtes Phänomen zu sein. Wir erinnern uns an jene Folge von „Sex and the City“, in der Samantha ihren Freundinnen den neuesten Schrei der Lifestyle-Industrie präsentiert: falsche Nippel zum Ankleben. „Nipples are huge right now“, doziert sie. Das war in den Neunzigern. Ewige Jugend als Schönheitsideal kam bereits in den frühen Siebzigern auf. Frauen wollten nicht mehr steif und zurecht gemacht aussehen, sondern leichtfüßig und unbeschwert – eben so wie ein zwölfjähriges Mädchen, das mit kleinem Brustansatz, aber ohne BH unterm T-Shirt herumläuft. Jugendlichkeit ist bis heute ein großes Thema. Turnschuhe zu Miniröcken und viel zu kurze Shorts sieht man an jeder Straßenecke. Nur von Nippeln fehlt jede Spur.

Dabei sind Brustwarzen unterm Hemd tatsächlich nicht mehr als ein dezenter Hinweis auf die Nacktheit der Frau. Wenn ich einen Rollkragenpullover ohne BH drunter trage, sieht mein Gegenüber keine Haut – nur jene subtile Erinnerung daran, das sich unter dem Stoff ein Körper versteckt. Jennifer Lopez und Kim Kardashian präsentieren mit ihren Nacktkleidern so viel Nacktheit, dass man müde wird vom Hinschauen. Es ist wie bei einem besonders dramatischen Film: dank inflationärer Verwendung von Elementen wie sentimentaler Musik und herzzerreißenden Abschiedsszenen, die Trauer, Tod und Verderben anschaulich illustrieren sollen, wird das Theatralische schnell zum unerträglichen Pathos. Wie Dramatik wirkt auch Nacktheit in kleinen Dosen verabreicht ungleich stärker. Kann es sein, dass uns diese Art der subtilen Andeutung heute obszöner erscheint als die offensive Enthüllung?

Vielleicht ist die Mode Schuld: aktuell schenkt sie perky nipples keinerlei Aufmerksamkeit. Statt körpernaher Tops gelten zumindest abseits der Roten Teppiche eher luftige Silhouetten als modern. Vielleicht ist die Zeit, in der wir uns gerade befinden, aber auch einfach zu plump für subtile Hinweise? Sexy und entspannt zugleich auszusehen scheint heute mehr denn je ein wahres Kunststück zu sein. Ikonen wie Marilyn Monroe, Farrah Fawcett, Jane Birkin oder auch die junge Kate Moss zeigten sich früher ständig mit keck aufgestellten Brustwarzen. Sie vertraten ein Schönheitsideal, das die natürliche, dezent zerzauste Sinnlichkeit der Frau in den Fokus rückte, ohne dabei an Grazie einzubüßen. Heute gibt es Frauen, die wie gelackte Barbies aussehen, und andere, die offenbar gerade erst aus dem Bett gestiegen sind. Dazwischen existiert erstaunlich wenig.

Dabei wäre es so einfach, man müsste nicht mal groß einkaufen gehen: denn was wirkt so charmant und pur zugleich wie ein Paar freiatmender Brustwarzen unter einem weißen T-Shirt, einem dünnen Pullover, einem schwarzen Hemdchen? Perky nipples sind wie freihändig Fahrradfahren, sie symbolisieren Freiheitsgefühl und sommerliche Leichtigkeit. Mode und Kleider haben uns heute nicht mehr viel zu sagen. Warum dann nicht lieber mit ganz natürlichen Mitteln arbeiten?