Gesundheitsküche

RESTAURANTS GLEICHEN HEUTE EHER KLINIKEN ALS GENUSSTEMPELN

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Neulich habe ich im Berliner Restaurant Dóttir zu Abend gegessen. Über dieses Lokal erzählt man sich, es sei das neue Grill Royal. Letzteres gilt ja bekanntlich als Eldorado von Schauspielern, Medienmogulen und anderen wichtigen Menschen. Auf der Karte stehen hier Sachen wie „1kg geröstete Garnelen mit Aioli“, „Pulpo klassisch oder sardisch“ oder Black Angus Steak mit Rotweinjus. Ich habe noch nie im Grill Royal gegessen, aber ich habe den Eindruck, dass man dort satt wird. Das kann man vom Dóttir nicht unbedingt behaupten. Weil aber ins Grill Royal nicht nur Leute wie George Clooney, sondern auch viele modebewusste Frauen gehen, die den chronischen Anflug eines leichten Hungergefühls ja durchaus zu schätzen wissen, dürfte zumindest der weibliche Teil der Grill-Royal-Gemeinde bald zum neuen Restaurant konvertieren. So viel habe ich bei meinem Besuch im Dóttir jedenfalls feststellen dürfen: der Anblick einer gebratenen Mohrrübe kann unter jungen Berliner Frauen schon für Schnappatmung sorgen. Aber der Reihe nach.

Man hatte mich ins Dóttir eingeladen, das will ich der Höflichkeit halber von vornherein kommunizieren. Essenseinladungen schlage ich prinzipiell nicht aus, und das erst vor wenigen Monaten unweit der Friedrichstraße eröffnete Restaurant schien allein der Herkunft derKüchenchefin wegen einen Besuch wert: Victoria Eliasdóttir ist Isländerin. Ich habe noch nie Isländisch gegessen, und man soll ja alles mal ausprobiert haben. Erster Gang: ein winziges Gurkensüppchen mit Garnele. Die Garnele wurde zunächst einsam im Schälchen serviert, dann langte ein Arm über meine linke Schulter und goss in kunstvollem Schwung den Gurkenschaum obendrauf. Solche gastronomischen Tricks sind heute wichtig, denn der Gast liebt die Illusion der vollen Kontrolle über sein Essen. Deshalb schaut er dem Kellner gerne beim Anrichten auf die Finger. Es funktionierte, Ohs und Ahs am Tisch, die Damen zückten ihre Telefone, hinterher fand ich in meinem Instagram-Account sieben sehr ähnliche Fotos vom Gurkensuppenteller, man hatte mich da irgendwo auf der Garnele verlinkt.

Zweiter Gang: eine längs halbierte Karotte in Karottensaftsauce, pardon, Jus. Unter einer millimeterdünnen, orangefarbenen Glibberscheibe schlummerte ein Klumpen saurer Sahne. Dritter Gang: ein Häuflein Graupen, darüber ein Scheiblein Lachs. Der Teller war nach zwei Minuten leer. Gibt’s noch Brot? Nach dem Hauptgang verschwanden alle nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Dabei erzählte man sich, man habe jetzt aufgehört, nach 18 Uhr Kohlenhydrate zu essen, deshalb sei das Essen hier im Dóttir einfach ideal, so leicht und frisch, da habe man nicht schwer zu verdauen. Zwischendurch ein Zug an der Zigarette. Noch wichtiger als ihre Gesundheit scheint den Damen ihre Verdauung zu sein.
Zum Dessert wollte ich einen Espresso bestellen, aber so etwas gibt es im Dóttir nicht. Also kein Espresso. Der Nachtisch: ein paar Tupfen Baiserschaum, ein winziger Kuchenwürfel, drei halbe Erdbeeren, karamellisierte Senfkörner. Wir waren am Ende des Menüs angelangt. Auf Kalorien hatte ich umsonst gehofft.

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Im Dóttir geht es darum, eine streng kuratierte Auswahl an modischen Nährstoffen zu sich zu nehmen. Total out ist das Über-Die-Stränge-Schlagen – wie in so vielen modernen Restaurants, die sich heute eher als Gesundheitsküchen, weniger als hedonistische Genusstempel begreifen. Entsprechend kommt auch die Atmosphäre häufig erst an zweiter Stelle. Im Mittelpunkt des Restaurantbesuchs steht die Läuterung. Früher ging man ins Restaurant, um zu genießen, guten Rotwein zu trinken und mit wohligem Völlegefühl und leichtem Schwips nach Hause zu wanken. Geblieben sind aus diesen Zeiten Berliner Institutionen wie die Paris Bar oder das Borchardt. Aber schon die Bezeichnung „Institution“ zeigt ja an, dass wir es bei diesen Läden mit Relikten aus der Vergangenheit zu tun haben. Seit Jahren werden die Portionen in den Sternerestaurants immer kleiner, fettarmer, reduzierter, beliebt sind „Essenzen von“, denen sämtliche Kalorien entzogen wurden. Die Chefköche sind nebenberuflich Marathonläufer und servieren Variationen von der Selleriestange.

Längst ist die Bewegung auf Volksebene angekommen. Gesundheitsküchen finden sich zumindest in Berlin an jeder Straßenecke. Kürzlich neu eröffnet wurde das Lunch-Café Klub Kitchen, dessen steriles minzgrünes Interieur den Charme einer Krankenhauskantine versprüht. Essen bedeutet hier nicht Freude, sondern Arbeit: alles muss man selber machen. Am Tresen bestellen, natürlich auch gleich bezahlen, Besteck holen. Ich habe im Klub Kitchen einmal zu Mittag gegessen. Zehn Minuten nach der Bestellung kam die Tresenfrau zu mir an den Tisch.“Dein Rote-Bete-Salat ist fertig“, informierte sie mich ,“Du kannst ihn Dir jetzt abholen.“ So ist das in Gesundheitsküchen. Freundin N. erzählte mir von ihrem Besuch im Daluma, einem ebenfalls neu eröffneten Berliner Szeneschuppen, in dem sie sich zum Mittagessen einen Pudding aus Chia-Samen bestellt hatte. „Sah aus wie Froschleich“, erzählte sie mir ,“und schmeckte auch so.“

Wenn man sich so umschaut, bekommt man den Eindruck, Essen sei heute zu einer klinischen Angelegenheit geworden. Man konzentriert sich im Restaurant zuallererst auf die möglichst kalorienarme, biologisch zertifizierte Nahrungsaufnahme, die sich mit diesen Eigenschaften allerdings längst nicht durch besondere Reichhaltigkeit auszeichnet, eher durch verschiedenste Mängel („frei von“). Im Dóttir gibt es kein Fleisch, nur Fisch oder Vegetarisches. Die Wände sind unverputzt und abgerockt wie in einem Friedrichshainer Nachtclub, auf den Tischen stehen Blumenvasen mit Lilienstängeln, man fühlt sich wie in einer Neuköllner Freunde-von-Freunden-Wohnung. Aber nicht nur das Essen, überhaupt das ganze Ambiente gleicht der Kreation eines ungeduldigen Siebtklässlers im Kunstunterricht: „Ich lass‘ das jetzt so.“ Halbfertig darf es, nein muss es heute schließlich sein, denn die Grandezza ist ja ausgestorben, dafür geht es lässig zu, auch irgendwie demokratisch. Wieso soll denn nur ein teures Steak Grande Cuisine sein dürfen? Wieso eigentlich nicht die Karotte?

Ich will mich nicht allem Neuen verwehren, im Gegenteil, ich liebe Erlebniskulinarik. Ich habe mal in einem Restaurant in Montpellier Taube mit Birnenpüree gegessen. Im Noma in Kopenhagen gab es Ameisenmarmelade im Kekssandwich. Das Dóttir wäre auch gerne überraschend, dabei ist es nichts weiter als eine weitere Gesundheitsküche. „Des Kaisers neue Kleider“ sagte Elisabeth Raether ganz treffend, als ich ihr von dem Hype um die gegrillte Mohrrübe erzählte. Da wird den Leuten für viel Geld etwas als hohe Kochkunst verkauft, nur weil es aktuellen Gesundheitsweisheiten entspricht. Aber die modebewussten Gäste lassen sich gerne darauf ein, denn sie wollen gehört haben: das isst man heute so.

Bilder über Instagram (@dottir_restaurant)