Stark ist das neue Schön

NAFSIKA SKOURTI MACHT KLEIDER FÜR KÄMPFERINNEN

nafsika skourtiWie sehen eigentlich starke Frauen aus? Wenn man Modedesigner heute fragt, für welchen Typ von Frau sie entwerfen, dann lautet die Antwort fast immer: für eine starke Frau. „I believe in strong women“, sagt Olivier Rousteing, Chefdesigner von Balmain. “Intelligent, powerful, strong-willed—that’s the Proenza Schouler woman“, sagt Lazaro Hernandez, Co-Designer des Labels. „She’s incredibly confident and a strong woman“, sagt Joseph Altuzarra, Designer der gleichnamigen Marke. „I hope when women wear Céline they feel strong“, sagt Phoebe Philo, Kreativdirektorin des Hauses.„It keeps me going knowing that strong, successful, powerful women choose to wear Simkhai when they want to look their best“, sagt der New Yorker Modeschöpfer Jonathan Simkhai. Über die Entstehung seiner Kollektion für den Sommer 2014 sagte Dries van Noten, er habe versucht, „to take very feminine elements and see how far I could push them, that they would still be believable garments for modern, strong women to wear.“

Interessant ist, dass all diese Designer ganz unterschiedliche Kleider entwerfen, dabei aber allesamt das gleiche Ideal im Kopf zu haben scheinen. Stark ist also das neue schön. Alle wollen es sein, nur keiner weiß, was es eigentlich genau ist. Was macht Stärke aus? Wie werden Kleider stark? Und was war zuerst da: die starke Frau, oder die Mode, die sie stark macht?

Nafsika Skourti kommt aus Jordanien, studierte am Londoner Central Saint Martins College („where she was trained, educated and sleep deprived“ wie ihre Internetbiographie ironisch vermerkt) und gründete 2012 ihr eigenes Modelabel. Ihre Kollektionen sind Spiegelbilder ihrer Herkunft und persönlichen Lebenswirklichkeit. In den Entwürfen für die Herbst-Winter-Saison 2015 verarbeitete sie die Angst um ihre kranke Mutter: verschwommene Prints von Blumen, angelehnt an die Sträuße am Krankenbett, zieren drapierte Roben, und metallisch glitzernde Zackenlinien, die an Ultraschallkurven erinnern, laufen über Hemdsärmel und Nadelstreifen. 1149483Die Kollektion für den kommenden Sommer sieht hingegen aus wie für Guerilla-Kämpferinnen gemacht –Frauen die, wie Nafsika selbst, umzingelt von Kriegsgebieten leben und in diesem Umfeld eine Garderobe brauchen, die cool und ästhetisch aussieht und gleichzeitig in den Kontext eines modernen Alltags passt. Weite Militärjacken und asymmetrische Bustierkleider sind mit farbigen Camouflage-Prints überzogen, Flammenmuster säumen 7/8-Hosen, arabische Schriftzüge schlängeln sich über Kleider und Ärmel. Wiederkehrend sind die Worte „borders“ und „television“, Nafsikas Kommentar zu den Prioritäten ihrer Generation: „Young people want to be politically aware, but entertainment is always just around the corner.“

Der ebenfalls aus dem Nahen Osten stammende Modedesigner Elie Saab, der sein gleichnamiges Label mitten im libanesischen Bürgerkrieg gründete, schuf mit seinen Cinderella-Kleidern einen glitzernden, märchenhaften Gegenpol zur zerstörerischen Kriegsgewalt. Vielleicht konnte eine Frau, die damals ein Kleid von Elie Saab trug, für einen Moment das Blutvergießen um sich herum vergessen. Nafsika Skourti erzielt mit ihren Kleidern den gegenteiligen Effekt. Eine Taube fliegt über den Stoff eines Hemdes, anstelle eines Olivenzweigs trägt sie ein brennendes Streichholz im Schnabel. Auf der Vordertasche einer Armeejacke ist ein Gewehrfokus aufgestickt und auf einem weißen Kleid lodert ein brennendes Auto. „Self destruct“ steht auf einem militärgrünen T-Shirt, dazu trägt das Model eine Hüfttasche, praktischer Stauraum für Munition. Nafsika Skourtis Mode ist tragbar, aber provokant. Jetzt fehlt eigentlich nur noch das passende Zitat der Designerin: „I make clothes for strong women“.

Denn genau so sehen ihre Kleider aus: wie die modische Interpretation genau dessen, was man als „stark“ bezeichnen würde. Unbesiegbarkeit, Mut, Kampfbereitschaft, all das sind Begriffe, die bisher immer als männliche Tugenden galten, jetzt aber auch von Frauen, dem „schönen Geschlecht“, besetzt werden. Ist stark vielleicht etwas viel Aufregenderes als schön?

„I design for a woman who is independent and confident“, sagt Nafsika Skourti. „Women who get engaged in a conversation, have active, curious energy and have big appetites for culture and visual stimulation. A balance between fashion, humour, and chic.“ Und obwohl in diesem Wortlaut von „strong“ jede Spur fehlt, liefert Skourti mit ihrer Erklärung wohl die anschaulichste Definition dessen, was starke Frauen ausmacht: Neugier, ein gesundes Selbstwertgefühl und Kultiviertheit – vor allem aber die Gewissheit, dass niemand außer ihnen selbst entscheiden kann, worin ihre Attraktivität besteht.

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Vielleicht ist auch genau das der Grund dafür, dass heute so viele unterschiedliche Designer einstimmig von „strong women“ träumen: stark ist gerade das, was keiner festgelegten Konvention folgt. Stark ist das Aparte, das Fremde, Überraschende. Stark ist eine Frau, die sich an keine Modemagazinweisheiten und Trendgesetze hält, sondern nach ihrem eigenen Instinkt lebt. Anders als das Wort „schön“, das immer schon mit der zwar kulturell bedingten, aber doch ziemlich konservativen Bedeutung klassischer Symmetrie besetzt war, entspricht „stark“ keinem bestimmten Rollenbild. Deshalb gibt es, Tatsache, allerdings auch gar keine starke Mode – sondern nur starke Frauen. Balmains knallenge Wildlederkleider? Proenza Schoulers Keulenärmeljacken? Altuzarras geschlitzte Bleistiftröcke? Phoebe Philos überdimensionale Wollhosen? Jonathan Simkhais halbtransparente Midiroben? Dries van Notens geblümte Jacquardjacken? Nafsika Skourtis Camouflage-Bustiers? Sind alles Kleider, solange sie am Bügel hängen. Rüstungen werden sie erst, sobald eine Frau hinein schlüpft, die ganz genau weiß, was sie will.

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Lookbookbilder Nafsika Skourti: Kirill Kuletski; Laufstegbilder: über Vogue Runway