Und nett war sie auch noch

WARUM FÄLLT ES FRAUEN SO SCHWER, FRAUEN SCHÖN ZU FINDEN?

tumblr_nyzoguAnZc1qafi93o1_1280Ihre Wimpern waren ungefähr vier Zentimeter lang. Ich hatte noch nie solche Wimpern gesehen. Wie gespreizte, hauchdünne Pfeile umkränzten sie ihre großen Augen. Sie sahen echt aus, wie überhaupt alles an dieser Frau echt aussah: die vollen Wangen, der Teint, der glänzte wie Schokoladenglasur, das lange Haar, das wie flüssiger Honig ihre Schultern herabfloss. Es war schwierig, sie nicht anzuschauen. Ich saß mit drei Männern in einem Strandrestaurant in Brasilien, einer der drei Männer war mein Freund, die beiden anderen waren seine Freunde. Alle drei starrten die Frau an, die die Gäste zum Tisch führte.

Zuerst bemerkte ich sie gar nicht. Sie war eher vollschlank, trug ein tief ausgeschnittenes schwarzes Tanktop, schwarze Leggings und schwarze Reebok-Turnschuhe. Auf den ersten Blick hatte ich sie als proletenhaft und schlecht gekleidet abgestempelt. Dann sagte einer der drei: „Ist die schön!“ Und ich schaute noch einmal hin, nicht mit meinen vom westlichen Schlankheitsideal verdorbenen Augen, sondern mit einem anderen Blick, so, wie man ein Blumenbeet oder eine italienische Kirche oder einen exotischen Vogel anschaut, und jetzt sah ich es auch: Diese Frau war schön, wunderschön. Es machte Spaß, sie anzuschauen. Und es war das erste Mal, dass ich eine Frau so ansah.

Nein, Brasilien hat mich nicht zur Lesbe bekehrt. Ich habe mir die Frau nicht nackt vorgestellt, ich habe nicht davon geträumt, sie in ihren saftigen Hintern zu zwicken oder das Parfum in ihrem Nacken zu riechen. Es war kein spontanes Begehren, das mich diese Frau anstarren ließ – das überließ ich den Männern. Aber zum ersten Mal schaute ich eine Frau an, ohne mich mit ihr zu vergleichen, ohne ihr Aussehen auf die Probe zu stellen, ohne zu überprüfen, ob sie coole Schuhe trug oder ihre Beine dünner waren als meine. Es war ein komisches, weil fremdes Gefühl, eine Frau einfach nur schön zu finden. Gleichzeitig war es herrlich.

Eine Woche später saß ich am Strand von Ipanema und genoss mit neu fokussiertem Blick die Aussicht. Ein Mädchen mit karamellfarbenem Lockenschopf hüpfte mit langen, eleganten Schritten zum Ufer, ihr orangefarbener Bikini entblößte glatte Haut und ein kirschförmiges Hinterteil. Ein paar Meter entfernt lag ein feingliedriges, honigbraunes Mädchen auf dem Bauch. Ihre Beine und Arme waren lang und von weicher Muskulatur definiert. Ich beneidete sie nicht, ich bestaunte sie. Toni Garrn hat auch schöne Beine. Aber wenn ich Toni Garrn in der Vogue sehe, wird mir, ganz unter uns, immer ein bisschen schlecht vor Neid. Wieso?, denke ich dann immer, hat diese Frau diesen Körper abbekommen und ich nicht?

Bei den brasilianischen Frauen dachte ich das plötzlich nicht mehr. Der männliche Blick meiner Reisegenossen hatte mir buchstäblich die Augen geöffnet. Aber warum war ich nicht früher darauf gekommen?

Ich erinnere mich, Cara Delevingne einmal sehr schön gefunden zu haben. Ich entdeckte sie 2012 in der Frühlingsausgabe des POP Magazines. Auf einem Bild saß sie hinter der britischen Königin auf einer Vespa. Ihr Körper wirkte knabenhaft, ihre Haare flatterten, ihr Lachen schien kindlich, aufrichtig. Weil ich sie nicht kannte, keine Geschichten oder Gerüchte über sie gehört hatte, sah ich in ihr eine Unschuld, die mich faszinierte. Sie wirkte geheimnisvoll.tumblr_mkbwlvpydo1rz8kafo1_1280Dann wurde Cara berühmt, plötzlich war ihr Gesicht überall, und eine Freundin, die sie für style.com interviewt hatte, erzählte mir, Cara habe sich wahnsinnig divenhaft aufgespielt, mit drei Handys jongliert und sei ihr im Großen und Ganzen ziemlich unsympathisch gewesen. Plötzlich entdeckte ich an Cara einen Makel nach dem anderen. Mir fiel auf, dass ihre Oberarme dicker geworden waren – vielleicht sogar dicker als meine? – ihr Gesicht irgendwie aufgedunsen wirkte und sie außerdem jetzt mit Leuten wie Taylor Swift abhing, die nebenbei bemerkt zwar sehr schlank ist, dafür aber eine schlechte Haltung hat, wie mir neulich auffiel.

So sind wir Frauen: Wir kennen einander kaum und stehen doch in permanentem Wettbewerb. Wir scannen uns gegenseitig auf jeden noch so kleinen Makel, wir lästern über Frauen, mit denen wir noch nie geredet haben, und wir feixen, wenn ein Supermodel plötzlich ein Wämpchen hat. Mag sein, dass wir uns insgeheim wunderhübsch finden. Aber oft können wir das nicht mal der besten Freundin offen sagen. Wir reden von „Girlpower“ und „Girlcrush“, aber tatsächlich ist diese Bewunderung nie so urteilsfrei wie die eines Mannes, der eine schöne Frau betrachtet. Meine Freundin N. erzählte mir neulich, sie habe ein Mädchen kennen gelernt, das von Kopf bis Fuß perfekt war: das Gesicht kristallklar und symmetrisch, die Lippen voll, die Haare blond, die Taille schlank, die Beine lang. „Und nett war sie auch noch“, sagte N.. „Hat die mich genervt!“ Letztes Jahr schlug ich in einer Magazinkonferenz vor, Gigi Hadid aufs Cover zu bringen – als Botschafterin eines neuen, gesunden Schönheitsideals. „Ach“, sagte ein Kollegin. „Die ist doch total dünn geworden. Wahrscheinlich essgestört!“ Zuvor hatte sich Gigi Hadid noch für ihren weiblichen Körper rechtfertigen müssen. Als Frau kann man es anderen Frauen echt nie recht machen.

Warum fällt es Frauen so schwer, andere Frauen schön zu finden? Warum können wir Frauen nicht betrachten wie alles andere, was schön ist: griechische Tempel, Matisse-Gemälde, Kleider von Rosie Assoulin, Seerosen? Konnten wir es nie? Das Ideal, das Frauen heute auf Laufstegen und Werbeplakaten verkauft wird, ist jedenfalls nicht gerade kooperationsfördernd. Die Frau auf dem Laufsteg oder im Modemagazin sieht immer besser aus als ich, gleichzeitig wird mir vermittelt, ich müsste mich mehr anstrengen, um auch so auszusehen. Wie sollte ich ihr oder jeder anderen Frau je ehrlich den Gefallen tun wollen, sie für schön zu erklären?

Nachdem ich aus Brasilien zurückgekehrt war, ging ich in Berlin in eine Boutique. Die Verkäuferin hatte wunderschönes, kastanienbraunes Haar. „Tolle Haare hast du,“ sagte ich. Bevor sie sich freuen konnte, musste sie wohl erstmal den Schreck verdauen: eine Frau hatte ihr ein Kompliment gemacht. Eine Frau!

Wer weiß, was wir Frauen alles gemeinsam erreichen könnten, wenn wir uns öfter mal sagen würden: Wie schön du bist!