Ist das noch Mode oder schon hässlich?

HABE DEN ÜBERBLICK VERLOREN

bildschirmfoto-2016-09-20-um-3-11-34-pmIch hatte es mir mit einer Zeitschrift im Bett bequem gemacht. Die Zeitschrift hieß System und war ziemlich teuer gewesen. Auf Seite 84 fand ich eine Fotostrecke, bei der es sich offenbar um ein Modeeditorial handelte, so ganz war das nicht zu erkennen, aber unten drunter stand Fotos: Juergen Teller, Styling: Lotta Volkova, und das klang schon mal ganz vielversprechend. Auf dem ersten Foto war eine nebelgraue Landschaft mit Asphalt, Straßenschildern, verschlammtem Schneematsch zu sehen. Mitten in der tristen Szenerie thronte eine klassische Bademodenreklame, leicht bekleidete Frau, türkisblauer Hintergrund. Ich blätterte weiter. Es folgten Ansichten von weiteren Schneematschlandschaften, eine Nahaufnahme von zwei rosa Mülltüten, dann ein ziemlich dürres Mädchen, das ausschließlich mit Pfeil und Bogen bekleidet in einem Eisloch stand. Eine Tropfsteinhöhle, eine blutende Jesusfigur, das Mädchen in Gucciklamotten und mit Burger-King-Krone auf dem Kopf. Auf einem der letzten Bilder saß es im Bademantel und Wanderstiefeln in einem gelben Sessel und starrte auf seine Bogenausrüstung, als wolle es sie auffressen. Ich verstand nur Bahnhof.

So was passiert mir neuerdings ständig. Ich sehe ein Foto von Juergen Teller und finde es hässlich. Ich probiere einen 200 Euro teuren Kapuzenpullover von Gosha Rubchinskiy an und frage mich, wer so was kaufen will. Ich stehe in einer Kunstgalerie und begutachte einen Haufen Asche, aus dem Stöcke ragen, der 45 000 Euro kosten soll. Ich lese ein preisgekröntes Buch, das nur aus Splittersätzen besteht, die alle mit kleinen Buchstaben anfangen und keine Verben beinhalten, dazwischen Einschübe in Mittelhochdeutsch. Ich bin umgeben von Zeug, das gefeiert und gelobt wird und von dem ich mich aber insgeheim frage: wer braucht diesen Schrott?

Ich habe irgendwie den Überblick darüber verloren, was heute wirklich wichtig ist, was der Rede und des großen Hypes tatsächlich wert ist – und was nicht. Ich traue meiner eigenen Meinung nicht mehr, denn in dem Umfeld, in dem ich mich bewege, gilt einer wie Juergen Teller als Jahrhundertikone, also werden die Bilder, die das System Magazin von ihm druckt, wohl zu irgendwas taugen müssen, und die Einzige, die zu blöd war, das zu erkennen, bin ich.

In der Redaktion, in der ich arbeite, kommen jeden Tag viele Pakete mit neu erschienenen Büchern an. Die Verlage hoffen, dass das Magazin über die Bücher berichtet. Auf den Buchrücken lese ich die Pressestimmen: „Der Zauber liegt im Siegeszug des feinen Humors, der intelligent ist und trotzdem lustig, sexy, aber nicht sexistisch, aufbauend und nicht verletzend.“ Oder: „Jenny Erpenbeck ist eine der besten und aufregendsten Autorinnen unserer Zeit.“ Oder: „Ein epochales literaturgeschichtliches Ereignis.“ Oder: „Skurril, exzentrisch und humorvoll.“ Ich habe einige dieser Bücher gelesen und weiß jetzt, dass „exzentrisch“ in den meisten Fällen eine freundliche Umschreibung für „kompletter Irrsinn“ ist. Das schrecklichste Buch, das ich in meinem Leben gelesen habe, hieß übrigens „Vor dem Fest“, war ein Spiegel-Bestseller und wurde 2014 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Die FAZ urteilte: „Weltliteratur aus der Uckermark: In ‘Vor dem Fest‘ erzählt Saša Stanišić, als gäbe es kein Morgen. Sein Roman ist das Ereignis des Frühjahrs“. Die Welt befand: „In der Literatur geht alles, wenn man es kann. Saša Stanišić beweist mit ‘Vor dem Fest‘: Er kann.“ Was, fragte ich mich, hatten diese Journalisten verstanden, was mir beim Lesen schleierhaft blieb? Ich wusste nicht, ob ich mich betrogen fühlen oder an meiner Intelligenz zweifeln sollte.

Neulich saß ich beim Abendessen mit ein paar Freundinnen, allesamt in der Modebranche tätig. Wir unterhielten uns über unsere Jobs, vor allem aber über Instagram. Besprachen unsere und die Followerzahlen anderer, und wie bekannt wir im Vergleich zu ihnen wohl seien, was sich mit diesem Bekanntheitsgrad anfangen und wie sich daraus ein Business machen ließe. Auf dem Weg nach Hause konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich ob der Ernsthaftigkeit, mit der wir diese Banalitäten diskutiert hatten, erschrocken sein sollte – oder wir einfach nichts anderes als ein Phänomen der Gegenwart besprochen hatten. Vielleicht ist Instagram ja gar nicht so banal, wie ich denke? So ist das heute: die Banalität hat so viel Macht gewonnen, dass man sie kaum noch banal nennen kann.

Bei den Modemarken geht es mir ähnlich. Vieles von dem, was die Designer zeigen, erscheint mir der blanken Freude an der Provokation entsprungen zu sein. Ja, das gelbe DHL-T-Shirt von Vetements, das überall als Sensation gefeiert wurde, war irgendwie lustig, aber gebraucht hat es keiner, und jetzt hängt es bei den armen Schweinen, die 300 € dafür bezahlt haben, im Schrank und keiner will es sehen. Christopher Kane zeigte gestern bei seiner Show in London Crocs zu feinen Strumpfhosen. An den neuen Handtaschen von Anya Hindmarch baumeln Spiegeleier aus Plüsch. Ist das noch Mode oder schon hässlich? Ich kann mich nicht entscheiden.

Schon klar, dass Mode Schockzustände und Empörung sucht, um weiterzukommen. Aber wenn dabei immer weniger Entwürfe herauskommen, deren Reiz sich auch noch in zwei Saisons erschließt, dann schafft sich die Mode immer mehr selbst ab. Überflüssig ist sie ja sowieso schon. Mit Kleidern, in denen man aussieht, als sei man auf dem Weg zu einer Bad-Taste-Mottoparty, wird sie nun auch noch banal. Es gibt tatsächlich immer weniger Designer, denen man abnimmt, dass sie mit ihren Entwürfen etwas für die Nachwelt schaffen und nicht bloß blind herumrebellieren wollen.

Aber wie soll man noch erkennen, was wirklich relevant ist und was nicht, wenn von allen Seiten ständig alles in den Himmel gelobt wird? Alessandro Micheles Gucci-Kollektionen haben mich lange Zeit richtig verwirrt. Von Anfang an konnte ich seinen Entwürfen, diesem krausen Omi-hat-sich-im-Kostümfundus-verirrt-Look, nichts abgewinnen. Aber weil er von den großen Kritikern und Experten als Offenbarung gefeiert wurde, zweifelte ich lieber an mir als an ihm. Es war wie in der Uni, als ich im Literaturstudium Bücher lesen sollte, deren Radikalität sich mir nicht erschloss, und im Fach Kunstgeschichte Werke analysieren sollte, die ich einfach nur hässlich fand. In meiner Verunsicherung fühlte ich mich dumm.

Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, die Irrelevanz von Dingen und Menschen zu verschleiern. Da ist zum Einen der gute alte Mainstream, dem entgegenzuschwimmen doch schwerer ist, als man meint. Gut, denkt man sich also, wenn alle Kendall Jenner toll finden, dann muss die wohl toll sein. Und weil die Bloggertussi aus Hamburg auf Instagram 300k Follower hat, muss auch die es richtig draufhaben.

Weiterhin ist der Rahmen entscheidend, in dem etwas präsentiert wird. Das System Magazine gilt als Avantgarde-Blatt, also nimmt man automatisch an, alles, was drin stehe, müsse interessant und fortschrittlich sein. Ein Buch, das bei Suhrkamp erscheint, wird als vielversprechender wahrgenommen als die Neuerscheinung des lokalen Bahnhofskiosks. Es gibt auch Einzelpersonen, die sich mithilfe des sogenannten name droppings mit der Gesellschaft illustrer Leute schmücken, mit denen sie offenbar bestens bekannt sind. Dabei empfiehlt es sich, immer nur die Vornamen zu nennen, um die Nähe zu besagter Person zu unterstreichen. Ich kannte mal eine, die konnte das richtig gut, ständig sprach sie von einem Jürgen, mit dem sie schon oft ein Ferienhaus auf Hydra geteilt habe. Später fand ich heraus, dass sie von Jürgen Teller gesprochen hatte.

Dann haben wir noch das Problem der Expertenseuche, die in Talkshows und Podiumsdiskussionen grassiert. Heute ist nämlich jeder Experte für allerhand – also keiner. Wem soll man da noch ernsthaft Glauben schenken? Alard von Kittlitz schrieb neulich in der ZEIT:

„Den Platz des Experten hat ein anderer eingenommen: der Expertendarsteller. In den beliebtesten Shows von Anne Will bis hart aber fair sitzen vor allem Politiker, Buchautoren und Journalisten – Leute, die etwas zu verkaufen haben. Über Philosophie spricht Richard David Precht, „Philosoph“. Volkswirtschaft erklärt Hans-Werner Sinn, „Ökonom“. Geht es um den Nahen Osten, äußert sich Jürgen Todenhöfer, „Jürgen Todenhöfer“. „Terror-Experte“: Elmar Theveßen. „Griechenland-Expertin“: Ulrike Herrmann. „Wissenschafts-Experte“: Ranga Yogeshwar.“

Wenn die Meinungen zu Terror, Flüchtlingen und Nahostkrise jedes dahergelaufenen Expertendarstellers in Windeseile zu anerkannten Mainstram-Fakten werden, ist das natürlich sehr viel gefährlicher als ein Literaturbetrieb, der einen Hochstapler feiert, oder eine Modewelt, die sich auf das Genie eines Designers einigt. Aber immerhin geht es in dieser Welt um Geschmacksbildung, darum, was Stil und Schönheit definiert. Und zumindest ich habe angesichts der massiven Überproduktion von Bestsellern, von „must sees“ und „must haves“, die ich dank „See-now-buy-now“ jetzt auch noch direkt nach der Show kaufen darf – vielen Dank! – keine Ahnung mehr, was ich gut finden soll und was nicht.

Oder bin ich einfach zu streng? Am Ende gar konservativ? Sollte ich aufhören, von der lustigen Modewelt nachhaltige Ideen zu erwarten, weil Mode eben ein Zirkus ist, dessen Spaß darin besteht, dass er so kurzweilig ist? Sollte ich mich über Marc Jacobs‘ Vorschlag, in der nächsten Saison in Plateausandalen und Ringelsocken mit passendem Minirock und Glitzerjacke herumzulaufen, einfach freuen, und mitmachen? Ist die Frage, ob diese Kollektion auch dann so gefeiert worden wäre, wenn der Designer nicht Marc Jacobs geheißen und die Show in einer Garage ohne spektakuläre Lichtershow stattgefunden hätte, berechtigt oder überflüssig? Eigentlich mag ich die Mode zu gern, um diese Fragen nicht zu stellen.

Letzte Woche war ich im Urlaub. Am Strand gab es zwei Eisdielen. Vor einer war immer eine lange Schlange. Zu der anderen ging niemand. Der unbeliebte Eismann tat mir leid, aber auch ich ging lieber dahin, wo die Schlange war. Nach dem langen Anstehen kam mir das Eis entsprechend köstlich vor. Vielleicht war es das gar nicht. Mittlerweile glaube ich, dass man seinem eigenen Geschmack ebenso wenig trauen kann wie dem der anderen.