Nachts in Venedig

UND WAS ICH DABEI ÜBER BEQUEMLICHKEIT GELERNT HABE

„ATM“, sagt der Taxifahrer und hält unvermittelt am Straßenrand. Draußen ist es finstere Nacht. Ich soll hier aussteigen und Geld holen, bei ihm kann man nämlich nur bar bezahlen. Die Straße, in der wir angehalten haben, könnte gut in Pinneberg oder Paderborn liegen. Sie liegt aber vor den Toren Venedigs.

Eine Stunde vor Abflug hatte ich noch im Internet nachgeschaut, ob es in Venedig Uber gibt. Ich finde Uber toll, weil ich das „automatische“ Bezahlen toll finde – für mich gibt es nämlich neuerdings nichts Anstrengenderes, als meine Kreditkarte, oder, noch schlimmer, Bargeld aus dem Portemonnaie holen zu müssen. Ich habe nie Bargeld dabei. Ich finde Bargeld unbequem. Jetzt will ich bitte bequem und unkompliziert zur Piazza San Marco kommen. Uber gibt es natürlich nicht, und um den Wasserbus zu suchen, der angeblich direkt vom Flughafen zur Piazza San Marco fährt, ist es mir zu spät: 23 Uhr.

Ich fürchte mich auch ein bisschen. Ich war einmal in Venedig und fand es damals ganz schön unheimlich: das smaragdgrüne Wasser, das einen überall umspülte, die Menschenmassen, die sich über bröckelnde Brücken schoben, die Marzipan-Oktopusse im Schaufenster einer Pasticceria, die atemberaubende Schönheit der Palazzi, die dabei irgendwie etwas Außerirdisches an sich hatten. Venedig, so erinnere ich mich, schien mir damals auf einem anderen Stern zu liegen. Dieses Fremde fand ich gruselig. Woran ich mich allerdings nicht mehr erinnern kann, ist, wie ich damals vom Flughafen in die Stadt kam.„ATM“, sagt der Taxifahrer noch einmal und deutet ungeduldig auf den Bankautomaten einige Meter weiter. Ich denke an meinen Koffer – sollte ich ihn nicht mitnehmen? Was, wenn der Taxifahrer gleich davonfährt, mitsamt meinem Laptop und meiner Zahnbürste? – und steige aus.

Zehn Minuten später sind wir an der Piazzale Roma angekommen, ich habe dem Taxifahrer 40 Euro in bar ausgehändigt und mir bei einer unglaublich genervten Kassiererin ein Ticket für den Wasserbus gekauft. Jetzt also doch. Es ist eiskalt, und ich habe wie immer den gleichen Fehler gemacht und bin im tiefsten Winter in dem Glauben nach Italien gefahren, dass es dort wärmer ist als in Deutschland. Ist es nicht.

Unklar ist, wo in einer Minute der Wasserbus ablegt (Kosten 7,50 Euro, das Wassertaxi hätte, Achtung, 70 EURO gekostet). Der Wind pfeift und das schwarze Wasser plätschert. Ich frage eine junge Frau in Canada-Goose-Jacke nach dem Wasserbus. Ich kann nämlich gar keine Busse erkennen, was aber auch daran liegen könnte, dass ich meine Brille in London liegen gelassen habe. In London war ich vor zwei Tagen, und da war alles anders als hier. Man konnte überall, sogar im Kiosk, mit Kreditkarte bezahlen, man musste damit nur auf ein Lesegerät tippen und schon war man sein Geld los. Das Uber kam schneller, als ich die Haustür aufmachen konnte, an den Rolltreppen standen alle rechts und gingen links, in der U-Bahn verkündete eine Stimme dreimal, welche Station man gerade anfuhr und warnte vor der Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante. Es war alles wahnsinnig effizient und einfach. Venedig ist jetzt, 48 Stunden später, das totale Kontrastprogramm.

Die Frau in der Canada-Goose-Jacke erklärt mir in gebrochenem Englisch, wo der Wasserbus ablegt, und sagt dann, ich könne alternativ auch bei ihr mitfahren. Jedenfalls verstehe ich das so. „My boat is there“, sagt sie und gestikuliert ungenau Richtung Wasser. „It’s very faster.“ Ich überlege kurz. Wenn sie eine Jacke mit Pelzkragen trägt, warum sollte sie sich dann nicht auch ein Boot leisten können? Vielleicht haben die Venezianer alle ein Boot, wie wir Berliner ein Fahrrad haben? Aber was, wenn sie mich entführt und an irgendeiner Kanalecke ins Wasser schmeißt? Das Risiko besteht. Ich lächle sie also freundlich an und nehme Reißaus Richtung Wasserbus.

Der Wasserbus ist innen minzgrün. Es zieht wie Hechtsuppe. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Der Motor röhrt mit ungeheurem Lärm auf, das schwarze Wasser unter uns sprudelt, wir bewegen uns aber nicht. Ich muss an meine erste Autofahrstunde denken, als ich ständig vergaß, beim Beschleunigen den Gang zu wechseln.Weil es keine Ansagen zu den Stationen gibt, an denen das Boot hält, muss man selbst in der Lage sein, im Dunkeln die Schilder an den Stegen zu lesen. Nebenbei ist nicht so leicht zu unterscheiden, wann sich das Boot gerade fortbewegt und wann es nur schaukelt. An den Stationen rammt es den Steg. Ich bin fasziniert von der Behäbigkeit, mit der man sich in Venedig fortbewegt, völlig eingeschränkt durch das Wasser, dem man wie brodelndem Magma ausweichen muss. Als ich vor fünf Jahren in Venedig war, um Blake Lively zu interviewen, fiel eine andere Journalistin ins Wasser, weil sie beim Gehen zu viel auf ihr Handy geschaut hatte.

War die Piazza San Marco jetzt schon? Mein Handy hat noch 8 Prozent Akku, ich schaue auf Google Maps nach, wo wir sind. In letzter Minute fällt mir auf, dass das Boot gerade den Steg der Station Piazza San Marco gerammt hat, schnell hüpfe ich ans Ufer. Kein Mensch ist draußen, es ist kalt, dunkel und still, nur das schwarze Wasser plätschert bedrohlich, als wolle es mich gleich verschlucken. Ich laufe einfach mal drauflos in eine Gasse rein, irgendwo dahinten muss die Piazza sein. Meine Schritte hallen auf dem Steinboden nach, ansonsten ist es so ruhig und verlassen, dass ich jedes Wort hören kann, das ein Mann irgendwo an einem offenen Fenster in einer Nebengasse spricht. Jede Minute wird ein Mensch mit Vogelmaske aus einem Hauseingang treten und mir einen Sack über den Kopf stülpen. Normalerweise bin ich total mutig. Aber irgendwas an dieser Stadt, an ihrer kalten Schönheit, macht mir Angst. Wahrscheinlich habe ich mir das aber auch nur in den Kopf gesetzt, weil ich zu viel „Herr der Diebe“ und „Donna Leon“ gelesen habe. Wahrscheinlich käme mir Venedig total muckelig vor, wenn dort irgendein Astrid-Lindgren-Roman spielen würde.

Dann stehe ich plötzlich an der Piazza San Marco. Der Platz sieht aus wie eine Filmkulisse nach Feierabend, oder wie ein geheimer Versammlungsort von Gespenstern, die jeden Moment hier auftauchen und ihren Mitternachtstanz aufführen werden. Ich ziehe meinen Handschuh aus, hole mein Handy aus der Tasche und will gerade ein Foto machen, als der Bildschirm schwarz wird. Mein Telefon ist erfroren. Wo war jetzt noch mal mein Hotel? Wie heißt es überhaupt? Wo bin ich? Wie viel Uhr ist es? Das alles steht in meinem toten Handy. Ich sehe kein offenes Restaurant, nur einen einzigen Menschen auf der anderen Seite des Platzes, hinter den meisten Fenstern ist es dunkel. Ich überquere den Platz, mein Trolli knattert über die kalten Steine. Ich steuere, rein nach Gefühl, auf einen schmalen Durchgang zu, der vom Platz zu einer Brücke führt. Hinter der Brücke liegt ein kleines Hotel mit brauner Glasschiebetür. Die menschenleere Lobby wird von weißen Glaskerzenleuchtern in ein grelles Licht getaucht, unter dem man bestimmt gut am offenen Herzen operieren könnte. Aus den Lautsprechern plärren 80er-Jahre-Hits. Der totale Zufall will es, dass das mein Hotel ist.In der New York Times schrieb Tim Wu letzte Woche in einem Artikel mit der Überschrift „The Tyranny of Convenience“: „Though understood and promoted as an instrument of liberation, convenience has a dark side. With its promise of smooth, effortless efficiency, it threatens to erase the sort of struggles and challenges that help give meaning to life.“ 

An diesen Satz musste ich denken, als ich mutterseelenallein durch das nächtliche Venedig lief. Es war zwar alles überhaupt nicht convenient, aber trotzdem irgendwie toll. In London hatte ich, 48 Stunden bevor ich nach Venedig flog, eine Berliner Freundin getroffen, die vor Kurzem dorthin gezogen ist. In Berlin, erzählt sie, habe es sie immer genervt, dass man an vielen Orten nicht mit Karte zahlen könne, man ständig einen Bankautomat suchen müsse, und Supermärkte am Sonntag geschlossen hätten. Seit sie in London lebt, wo jedes zweite Restaurant zu einer Kette gehört, sodass man immer schon vorher weiß, was man dort bestellen kann, vermisse sie all diese Unbequemlichkeiten (dank der man oft auch einiges an Geld spart).

Ich selbst stand letzte Woche im Regen am Somerset House und suchte ein Restaurant. Weil es mir zu riskant erschien, in irgendein Lokal zu gehen, suchte ich auf meinem Handy die nächste Le-Pain-Quotidien-Filiale. Dabei mag ich Le Pain Quotidien gar nicht mal so gern. Ich wusste aber genau, dass ich im Umkreis von 500 Metern eines finden und welches Essen mich dort erwarten würde. Sehr bequem war das. Bequemlichkeit sorgt allerdings auch dafür, dass man nicht mehr das tut, was man wirklich gerne tut, sondern das, was einem am einfachsten erscheint. Dabei verwandelt sie einen, wie zum Beispiel mich in London, in eine träge herum rollende Maschine, für die sich alle Schranken öffnen, bevor sie irgendeinen Knopf drücken muss.

Maximaler Komfort gilt als hohes Gut des modernen Zeitalters, fast jede neue App soll irgendeinen Aspekt im Leben noch einfacher machen. Man kann sich heute jedes Gericht nach Hause liefern lassen, jedes erdenkliche Produkt vom Sofa aus ordern, in wenigen Sekunden ein Taxi, eine Putzkraft oder einen Großeinkauf vor die Tür bestellen. Ich war vier Tage in London und habe kein einziges Mal mit Bargeld bezahlt. Weil ich überall mobiles Internet hatte, war ich ständig auf Instagram. Ich verlief mich nicht, sondern ließ mich von Google Maps durch die Stadt leiten. Es war alles sehr praktisch, aber zwischendurch kam ich mir vor wie ferngesteuert. „What happens to human experience when so many obstacles and impediments and requirements and preparations have been removed?“ fragt Tim Wu. „Convenience is all destination and no journey.“

Es wäre nicht so schön gewesen, wenn ich in Venedigs beißender Mitternachtskälte mein Hotel nicht gefunden hätte. Aber selbst dann hätte ich, ganz ohne mein Handy, ohne eine App, ohne idiotensichere Ausschilderung, irgendeine Lösung gefunden. Bequemlichkeit ist toll. Manchmal nimmt man aber viel mehr von der Welt wahr, wenn sie es einem nicht so einfach macht.