Von Statement-Mündern

Auch wenn sich der durchschnittliche Mitteleuropäer mit Vorliebe in gedeckt schlammfarbene Kleidung mit wahlweise grauem oder schwarzem Farbakzent hüllt, und das, wie ich schon häufiger verzweifelt feststellen musste, durchaus nicht nur im Winter, ist in unseren modisch betrachtet so übervorsichtigen Gefilden nun scheinbar doch ein kleiner Lichtblick zu erkennen. Ich habe den Eindruck, dass immer mehr Frauen selbst im Alltag gerne Lippenstift auftragen, und zwar nicht nur jene, die sie sich im Alterssegment jenseits der fünfzig bewegen und mit dem leuchtenden Lippenrot in erster Linie von den feinen Fältchen, die sich allmählich um Mund- und Augenwinkel zu drapieren beginnen, ablenken möchten.

Ganz im Gegenteil. Der Lippenstift scheint, nachdem die mit zu dick und klebrig aufgetragenem Mascara überstandene Pubertät vorüber ist,  im weiblichen Schminkköfferchen langsam aber sicher eine Vormachtstellung einzunehmen. Ich kenne Frauen, die sich so sehr an ihr auffälliges Lippenrot gewöhnt haben, dass sie das Haus ohne Lippenstift gar nicht mehr verlassen können. Plötzlich begegne ich überall roten Lippen, in der U-Bahn, auf dem Wochenmarkt, in der 08/15-Diskothek oder am Flughafen. Besonders eine gewisse Art des Stilbruchs, bei der die kräftige Lippenbemalung in Kombination mit ausgelatschten Nike Air Max und voluminösem Winterparka zur Geltung kommt, ist mittlerweile sehr beliebt und hat den Lippenstift damit auch aus seiner Klischeerolle als weibliches Verführungssinstrument befreit. Selbst Berlins bekannteste Bloggerin Mary Scherpe, Chefin des Online-Magazins Stil in Berlin, hat in Kooperation mit Uslu Airlines einen eigenen Lippenstift in dunklem Blutrot entwickelt, der in Stil in Berlin’s Pop-Up-Store im vergangenen Oktober zum Verkaufsschlager wurde und aktuell auf Amazon erworben werden kann.

Darf man nun vielleicht hoffen, dass der Funke eines Tages ebenso auf das stoffliche Styling übergreifen und wir derzeit noch überwiegend schlammfarben gekleideten Mitteleuropäer demnächst auch bei der Wahl des Wintermantels von den Schlammfarben Abstand nehmen und ein heiteres Kirschrot vorziehen werden?

Das wage ich in der Tat zu bezweifeln. Trotzdem ist die Entwicklung hin zu feuriger Betonung der Mundpartie durchaus positiv zu betrachten. Die Damenwelt scheint endlich wieder  begriffen zu haben, dass auch Make-Up mehr ist also bloßes Kaschieren und Abdecken, dass man einen Lippenstift gerne wie ein knalliges Accessoire behandeln darf, das in Kombination mit gähnend langweiligen Outfits für  exzentrische Akzente sorgt.
Zum Beispiel in der Uni: dort begegne ich in der generell immer besonders unmodisch gestylten Philosophischen Fakultät III ziemlich hageren und unscheinbaren Menschen, die sich nur von Büchern zu ernähren scheinen, und in ihrer offensichtlichen Lesewut nicht nur das physische Essen, sondern auch eine einigermaßen ansprechende Bekleidung vernachlässigen. Umso freudiger bemerkte ich daher neulich in meinem Literaturseminar ein Fräulein mit himbeerpink bemalten Lippen, dazu trug sie zwar wiederum einen reichlich ausgeleierten Acryl-Pullover, aber das war mir egal, ich freue mich über jede modische Farbigkeit, die man im derzeit schrecklich deprimierend grauen Berlin überhaupt finden kann.

In den 80er Jahren, die ich zu meinem großen Bedauern leider nicht miterlebt habe, soll das auffällige Make-Up im Alltag ja angeblich ganz nonchalant zur Tagesordnung gehört haben. Im Zuge des Körperkults durfte natürlich auch die optimale Akzentuierung der Gesichtspartie nicht zu kurz kommen, weshalb sich meine Eltern heute mit Schaudern an lila Lippgloss, limettengrünen Eyeliner  und blauen Lidschatten erinnern. Aber, meine Lieben, die guten Zeiten kommen wieder! Offenbar ist vielen Modehäusern angesichts des auf der Straße zu beobachtenden, konstant wachsenden Bewusstseins für grelle Lippenfarbe ein Lichtlein aufgegangen: plötzlich mutet auch das Make-Up-Styling auf den Laufstegen wieder besonders extravagant an. Den Anfang dieser Entwicklung machte Miu Miu bei seiner A/W-2012-Show im vergangenen Jahr, als die Models mit um die Augen herumgezogenen himmelblauen Kringeln und aufgeklebten silbernen Pailletten für Furore sorgten. Dior setzte diese Idee in seiner S/S-2013-Show fort, dort liefen die Damen Hanne Gaby Odilie und Fei Fei Sun mit kräftig in Blau und Türkis getuschten Lidern und darauf applizierten Glitzerpartikeln auf. Niemand anderes als Prada entschied sich allerdings für ein besonders volksnahes Make-Up – schlichten, flammend roten Lippenstift.

Bis sich das Gros der mitteleuropäischen Bevölkerung tatsächlich wieder mit bonbonfarbenen Augenlidern auf die Straße wagt, werden wohl noch ein paar Saisons und Schauen mit exzentrischen Make-Up-Ideen vergehen müssen – der Lippenstift hat seine einstige Hochphase hingegen längst wieder erreicht. Vielleicht geht diese Entwicklung auch mit den derzeit so beliebten, auffällig extravaganten Statement-Schmuckstücken, Statement-Schuhen, Statement– Handtaschen, generell also mit Statement-Accessoires einher. Denn was könnte es schließlich Cooleres geben als ein Statement-Lippenrot?