In der schrecklichen Parallelklasse meiner Grundschule gab es ein Mädchen namens Luise. Luise lief im Sommer 2003 pausenlos in einem ungemein betörenden Oberteil herum, um das ich sie sträflich beneidete. Es war eine sogenannte Carmenbluse, züchtig für Drittklässlerinnen in Kleidergröße 134 verniedlicht, mit Gummizug am Ausschnitt. Der Gummizug war quasi der special effect besagten Oberteils: dadurch ließ es sich über die Schultern bis knapp oberhalb der Brustwarzen herunterziehen. In diesem Aufzug sah Luise aus wie eine kleine Lolita, zuckersüß und gefährlich zugleich. Luises Carmenbluse war rot-weiß-kariert. Ich war grün vor Neid.
Meine Mutter, anno dazumal meine persönliche Einkäuferin, versprach auf der Stelle, nach einem ähnlichen Modell Ausschau zu halten. So kooperativ hat sie sich nicht immer gezeigt, hier jedoch ging es um ein mädchenhaftes Kleidungsstück, worin sie mich gerne sehen würde.
Nach ausdauernder Recherche wurde Maman bei H&M fündig, zum Zeugnis gab es ein schweinchenrosafarbenes, knallenges T-Shirt aus Jersey mit Gummizug am Ausschnitt und knuffigen kleinen Puffärmeln. Erfolglos versuchte ich die körpernahe Hülle lolitahaft über meine kleinen Oberarme gleiten zu lassen. Von Spezialeffekten fehlte damit jede Spur: stattdessen ähnelte ich eher einer Puppe in Würstchenverkleidung, frei von jeglicher Schulterfreiheit.
Vielleicht liegt genau darin der Ursprung meiner bis heute andauernden Faszination für schulterfreie Oberteile: Das Trauma des Würstchenoutfits verfolgt mich. Schulterfreies kann tatsächlich umgemein gut aussehen, wenn es sinnlich und cool, elegant und wie zufällig herabgerutscht zugleich getragen wird. In den jüngst präsentierten Winterkollektionen sehen wir eine ganze Reihe herrlicher Exempel dieser wiedererwachten Modeerscheinung: bei Prada gleiten die Tweed-Träger scheinbar unabsichtlich vom Schlüsselbein herab, Miu Miu kombiniert zu diesem Manöver ein gepunktetes Halstuch. Dezenter wird es bei Céline, wo eine schnurgerade Stoffbahn die Oberarme umspannt. Royalblauer Samt fließt bei Marios Schwab von schlanken Modelschultern, während die Träger bei Prabal Gurung nur knapp über den Ellenbogen schweben – und Nina Ricci inszeniert die neue Schulterfreiheit am knallroten Businesskostüm, womit die Ambivalenz dieses modischen Geniestreichs einmal mehr versinnbildlicht wäre: denn entblößte Schultergelenke, leicht knochig und selten speckig, symbolisieren lüsterne Femininität in Kombination mit jugendlicher Nachlässigkeit. Damit stehen sie im Grunde für genau das, was Frauen heute ausstrahlen wollen: Selbstbewusstsein und Stärke ohne Mannsweibertum. Wir wollen heute erfolgreiche Unternehmerinnen sein, aber gleichzeitig auch immer noch als Frauen wahrgenommen werden, nicht als knallharte Businessmaschinen in Männerkleidung, mit denen das Verhandeln nicht wirklich Spaß macht.
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Von links nach rechts: Prada, Miu Miu, Prabal Gurung, Céline, Nina Ricci. Alle Bilder: style.com/GoRunway |
Wem diese Analyse zu kryptisch ist, dem sei mit eventuell aussagekräftigeren Bildbelegen meiner Wenigkeit weitergeholfen: ich habe, zur abschließenden und endlich effektiven Verjährung meines Grundschul-Fauxpas, das Männerhemd als schulterfreies Oberteil inszeniert (offen gestanden handelt es sich natürlich um eine dreiste Kopie dieses Streetstyle-Fangs von Søren Jepsen). Damit eifere ich nicht nur einem der verlockendsten Trends der anstehenden Wintersaison nach, sondern versuche die Carmenbluse auch aus ihrem mitunter rotlichtigen Milieu zu befreien. Denn, ganz ehrlich: wie eine gefährliche Lolita möchte ich heute nicht mehr aussehen.