Literatur und Mode: 5 stilsichere Buchtipps für den Sommer 2013

©Todd Selby
Es gibt Leute, die behaupten, dank des Internets und der Omnipräsenz mobiler Telefone würde kein Mensch mehr Bücher lesen. Das halte ich eindeutig für ein Gerücht. Gerade im Sommer sieht man allüberall lesendes Volk sitzen, im Café, am Badesee, auf Balkonien, unterm Sonnenschirm. Lesen vertreibt die Sommerträgheit. Der Strand ist dafür das beste Beispiel: nirgends kann man mehr Leserinnen und Leser auf so vergleichsweise kleinem Terrain sichten.

Nur einmal teilte ich mir beim Strandurlaub ein Fleckchen Sand mit zwei nicht-lesenden Touristinnen, die den ganzen Tag in der Sonne brieten, ohne auch nur ein einziges Buch, nicht einmal ein Klatschmagazin in die Hand zu nehmen, während ich höchstambitioniert Thomas Mann’s Buddenbrooks verschlang. Leute, die im Sommer nicht lesen, verstehe ich nicht. Was soll man in der Hitze denn sonst den ganzen Tag anstellen?

Möglicherweise war den beiden Damen nach wenigen Tagen Badeurlaub aber auch einfach schon der Literaturproviant ausgegangen – gleich nach dem Dauerregen eines meiner größten Feriengrauen. Damit meinen geschätzten BlogleserInnen kein ähnliches Schicksal widerfährt, folgt hier nun also anlässlich des Beginns der Feriensaison Clairette’s exklusiver Literaturguide für den Sommer 2013 – inklusive thematisch passender Outfits, versteht sich, schließlich ist das hier ein Modeblog. Haben wir uns nicht schließlich alle schon mal gefragt, wie die Figuren unserer Lieblingsbücher wohl angezogen wären, würden sie uns plötzlich mal in der außerliterarischen Realität begegnen? Und in welchem Look wir ihnen entsprechend gegenübertreten wollen würden? Karl Lagerfeld ist übrigens auch eine echte Leseratte.

In diesem Sinne also: Clairette wünscht ein munteres und stilsicheres Literaturvergnügen!
1. Elegant & nobel: Was davor geschah von Martin Mosebach
In wahrhaft poetischer Sprache, blumig, modern, frisch und unterschwellig ironisch entführt uns Herr Mosebach in die sagenumwobene Dekadenz der Frankfurter Upper Class. Ausgangspunkt der Geschichte ist die Frage einer jungen Frau an ihren Freund, was den denn eigentlich vor ihrer Beziehung umtrieb – eine für Liebesverhältnisse sicherlich nicht ganz unheikle Frage. Er beginnt also zu erzählen, von der Frankfurter Wohnung, von zwei wohlhabenden Ehepaaren mit düsteren Geheimnissen, von einem ominösen libanesischen Geschäftsmann im „etwas zu eng sitzenden Flughafen-Anzug“, von schönen Frauen, für die das Schminken eine intellektuelle Beschäftigung darstellt und ihren Gatten, die sich und ihre Firmen gegenseitig in den Schmutz zu ziehen versuchen, von Intrigen und Affären der noblen Gesellschaft, die hinter dem Schleier des Scheins lebt, mit Alkohol am Swimming Pool und einem blütenweißen Kakadu im Wohnzimmer.

Wie in feine Tinte tauchten die Körper in dieses Becken, es war immer eine kleine Überraschung, sie unter Wasser dann in heller Nacktheit aufleuchten zu sehen. Rosemarie Hopsten trug einen schwarzen einteiligen Badeanzug mit kleinem Beinansatz, der ihre kräftige, an eine Maillol-Skulptur erinnernde Figur mit deutlicher Taille und den geschwungenen Hüften prächtig herausstellte; sie tauchte und warf beim Auftauchen das nasse Haar mit einem Schwung aus der Stirn; als sie auf der Aluminiumleiter aus dem Becken stieg vor den Augen ihrer in Liegestühlen ruhenden und plaudernden Gäste, schimmerte der triefende Stoff wie ein Robbenfell, die Wassertropfen umsprühten sie blinkend, es war ein triumphaler Aufstieg aus feuchten Tiefen. 

Schmuck: Kenneth Jay Lane, Badeanzug: Mara Hoffman, Sonnenbrille: Prada, Hut: Eugenia Kim, Rock: Marni
 2. Intellektuell & geistreich: Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom

In diesem psychotherapeutischen Historienroman machen wir Bekanntschaft mit einer ganzen Reihe illustrer Persönlichkeiten des späten 19. Jahrhunderts: Sigmund Freud, Lou Andreas Salomé, Dr. Josef Breuer, Friedrich Nietzsche. Letzterer lässt sich dank der Überzeugungsarbeit der schönen und nervtötend selbstbewussten Frau Salomé zu einer gänzlich neuartigen Behandlungsmethode seines Migräne-Leidens überreden, für die heutzutage lauter ausgebrannte Großstädter ein kleines Vermögen bezahlen. Mit Breuer und Freud ist die Gesprächstherapie geboren, das sogenannte chimney-sweeping, bei dem sich der Patient im Dauermonolog von seinen seelischen Belastungen reinigen soll.
Bloß legt sich ein Herr Nietzsche nicht gerne zum zwanglosen Plaudern auf die Couch, weshalb der Versuch natürlich im Desaster enden muss, auch deshalb, weil sein Arzt Dr. Breuer eigentlich erstmal seinen eigenen Schornstein reinigen müsste. Wir sehen: das Burn-Out-Syndrom ist durchaus kein Phänomen der Gegenwart.

„Hoffnung? Hoffnung ist das übelste der Übel!“ Nietzsche erhob die Stimme. „In meinem Buche „Menschliches, Allzumenschliches“ behaupte ich folgendes: Als Pandora das Fass öffnete und die Übel, welche Zeus hineingelegt hatte, in die Welt der Menschen ausgeflogen waren, blieb, von allen unbemerkt, ein letztes Übel zurück – die Hoffnung. Seit dieser Zeit betrachten die Menschen das Fass und seinen Inhalt, die Hoffnung, irrigerweise als Schatz, als größtes Glücksgut. Dabei haben wir vergessen, dass Zeus den Menschen wünschte, sie möchten sich weiterhin quälen lassen. Die Hoffnung ist das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.“ 

Bluse: Veronique Branquinho, Hose: Acne, Brille: Illesteva, Schuhe: Lanvin
3. Betörend: Lolita von Vladimir Nabokov
Es soll ja Leute geben, die diesen berüchtigten Klassiker der Weltliteratur nie gelesen haben. Deshalb darf er in dieser Auflistung auf keinen Fall fehlen. Lolita, so nennt der Protagonist Humbert Humbert die zauberhafte und zugleich rotzfreche Dolores, in deren Elternhaus er eines Sommers in den 40er Jahren als Untermieter zieht. Halb im Versehen entführt er, der seit dem Verlust seiner Jugendliebe Annabel ein besonderes faible für junge Damen, „Nymphchen zwischen neun und dreizehn Jahren“, hegt, Lolita und reist mit ihr auf einem verruchten, dramatischen Roadtrip quer durch die Vereinigten Staaten. Dass das nicht gut gehen kann, müsste allen Beteiligten klar sein, und doch iszeniert Nabokov diese prekäre Geschichte, den Dunst der verbotenen Liebschaft, in geradezu schauderhaft heiteren, sprachlich virtuosen Wortgespinsten. 

Ein normaler Mann, dem man ein Gruppenbild von Schulmädchen oder Pfadfinderinnen mit der Aufforderung zeigt, er solle die Reizvollste aussuchen, wird nicht unbedingt das Nymphchen unter ihnen wählen. Man muss ein Künstler sein, und ein Wahnsinniger obendrein, ein Spielball unendlicher Melancholie, dem ein Bläschen heißen Gifts in den Lenden kocht und eine Flamme schärfster Wollust unablässig in der elastischen Wirbelsäule lodert, um an unbeschreibbaren Anzeichen – der leichtgeschwungenen Raubtierkontur eines Backenknochens, dem Flaum an den schlanken Gliedern und anderen Merkmalen, die aufzuzählen mir Verzweiflung, Scham und Tränen der Zärtlichkeit verbieten – sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu entdecken…

Bikini: Dolce & Gabbana, Cupcake-Täschchen: Sarah’s Bag, Lippenstift: &Other Stories, Sonnenbrille: Opening Ceremony, Kleid: Topshop

 4. Glamourös & teuer: Park Avenue Prinzessinnen von Plum Sykes
Schaurig, dieser Titel! Herrlich, dieses Buch! Man könnte Park Avenue Prinzessinnen, diesen Gesellschaftsroman von Plum Sykes, schon allein des zweifelhaften Covers wegen auf der Stelle in die peinliche Ecke des Buchladens verbannen, in der man eigentlich keinem Bekannten begegnen möchten. Aber Plum Sykes, als eine der erfolgreichsten Modejournalistinnen der USA gefeiert und unter anderem bekannt für ihre VOGUE-Kolumne „Fashion Fiction“, hat mit diesem Buch ein derart raffiniertes, pikantes und schwer amüsantes Porträt der abgehobenen New Yorker High Society geschaffen, dass es mir tatsächlich von meinem Großvater empfohlen wurde, der sonst nur hohe Literatur von Mann bis Goethe verschlingt. Die Park Avenue Prinzessin schlechthin heißt Julie Bergdorf, eine perfekt blondierte Kaufhaus-Erbin, die gelegentlich aus Langeweile im eigenen Kaufhaus Hermés-Taschen klaut, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, nach potenziellen Heiratskandidaten Ausschau zu halten, mit ihrem Seelenklempner und Dermatologen Dr. Fensler zu schwatzen oder mit ihren Freundinnen Schlachtpläne für den Chanel-Sonderverkauf auszuhecken. Erzählt wird all das aus der Perspektive einer ihrer zum Drama neigenden Kumpaninnen, die sich nach gescheiterter Verlobung im Pariser Ritz-Carlton mit einer teuflischen Mischung aus Mimosas (Champagner mit Orangensaft) und Tabletten umzubringen versucht, nicht ohne sich vorher Gedanken über das perfekte Suizid-Outfit zu machen: bestehend aus einem flauschigen Ritz-Bademantel und, natürlich, Manolos. 

Die angesagtesten Sonderverkäufe in New York sind so gefährlich wie Krisengebiete, dagegen wirkt der Gazastreifen wie ein Naherholungsgebiet. Ungelogen, ich habe mal gesehen, wie K.K. beinahe ihre eigene Cousine bei einem Sonderverkauf von TSE ermordet hätte, weil beide diesen wahnsinnig tollen weißen Kaschmir-Mantel haben wollten, von dem es nur einen einzigen gab. Kein Wunder also, dass Jolene Morgan bei solchen Anlässen all ihre „Shopping-Feldzüge“ minutiös vorausplant. Sie beraumte im Vorfeld des Chanel-Verkaufs eine „Strategie-Besprechung“ an, und zwar mit Lara Lowell, Julie und mir. Wir trafen uns zum Lunch im Restaurant des Four Seasons in der East Fifty-second Street. Manchmal mache ich mir Sorge um Jolenes Geisteszustand, ganz ehrlich. Das Four Seasons ist so ein Laden, wo Bürgermeister und Medienmogule sich zum Lunch treffen. Es war jedenfalls nicht der Laden, der einem als Location für einen Mode-Gipfel als Erstes in den Sinn kommt. Aber ich vermute, Jolene wollte ihre Lagebesprechung in Gegenwart anderer brillanter Strategen abhalten. 

Pullover: Pierre Balmain, Rock: Mother of Pearl, Schuhe: Aquazzura, Ohrringe: Anton Heunis, Clutch: Oscar de la Renta
5. Abenteuerlich & fesselnd: Sokolows Universum von Leon de Winter
Alexander Iwanowitsch Sokolow lernen wir zunächst als Straßenkehrer in Tel Aviv kennen, der während der Arbeit gerne schon mal die ein oder andere Wodka-Flasche leert – mit der Zeit entfaltet sich in diesem großartigen Thriller jedoch seine wahre Geschichte, das wahre Universum Sokolows, eines früheren Raumfahrtspezialisten der Sowjetunion, dessen Karriere mit der fatalen Explosion der von ihm und seinem besten Freund und Kollegen Lew Lesjawa entwickelten Rakete einst ein abruptes Ende fand. Plötzlich steht Lew wieder vor ihm, als Mörder, der in Tel Aviv mitten am Tag und mitten auf der Straße einen Mann umbringt. Was ist aus Lew geworden, dieser schillernden Gestalt der russischen Raumfahrtforschung, während Sokolow in Israel dem Alkohol verfiel? Was hat der ausbrechende Golfkrieg mit den finsteren Machenschaften der Sowjets zu tun? Wer behält am Ende die Macht, genialer Skrupel oder moralischer Anstand? Allen, denen das  zum Teil sehr naturwissenschaftlich geprägte Sujet dieses Romans Angst macht, sei gesagt: ich bin in der Schulzeit im Physikkurs mehrmals hoffnungslos durchgefallen – und habe selten ein fesselnderes Buch gelesen als Sokolows Universum

 Die Sonnenbrille spritzte auseinander, der Hinterkopf des Mannes verwandelte sich in eine große zerquetschte Tomate. Der Getroffene sank in sich zusammen, sein Körper schlug auf dem Boden auf. Das Geräusch, das durch die heiße Luft auf Sokolow zuwaberte, erinnerte ihn an das Klatschen des Zeitungspakets, jener hundertfünfzig mit einem Strick verschnürten Exemplare des Ma’ariv, das von einem fahrenden Lastwagen auf den Bürgersteig vor seiner Millionärswohnung geworfen wurde und für den Laden im Erdgeschoss bestimmt war (…) Der Mann blieb jetzt dicht vor ihm stehen, auf der anderen Seite des Müllkarrens, und richtete seine Waffe auf Sokolows Kinderkopf. Sie sahen sich in die Augen, und Sokolow erkannte die nervöse Entschlossenheit des Mannes und den Schweiß auf seinen Schläfen und der Oberlippe, und er sagte: „Ja nitschewo nje widjel.“ Ich habe nichts gesehen. 

Sonnenbrille: Illesteva, Kleid: &Other Stories, Hut: Stella McCartney, Top: Tibi, Ring: Mawi, Schuhe: Saint Laurent