Drama Queens von nebenan

Die Modewochen vom Computerbildschirm aus zu verfolgen ist ein bisschen wie die Zusammenfassung des Bundesligaspieltags bei der Sportschau zu gucken. Leider konnte man nicht live mitfiebern, dafür bekommt man dank der Fernsehübertragung gleich ausschließlich die tatsächlich wichtigen Details geliefert, quasi vorgefiltert und sachlich aufbereitet.
Wenn die Modepresse also bei Prada und Lanvin am Laufsteg sitzt, während ich im heimischen Büro vor dem Laptop hänge und im 30-Minuten-Takt style.com frequentiere, dann darf ich mich wenigstens mit dem Gedanken trösten, dass ich so unter Garantie immer meinen Front-Row-Platz sicher weiß, einen jeden Look zusätzlich in aller Ruhe im Detail bewundern kann, und außerdem einfach zur nächsten Kollektion weitergeklickt werden darf, sofern sich die aktuell betrachtete als Flop entpuppt. Das beste aber ist: vom Schreibtisch aus lässt sich ohne die große Show, die Musik, den Stress, Spaß und die Reizüberflutung, die eine Fashion Week eben so mit sich bringt, wunderbar analysieren, worauf wir uns im Modesommer 2014 tatsächlich freuen dürfen.

Die britische VOGUE hat den Braten wie immer als Erstes gerochen und bereits für den anstehenden Winter ein gewandeltes Frauenbild in der Mode prophezeit, das Emanzipation und weibliches Selbstbewusstsein nicht mehr mit burschikosem Mannsweibertum verwechselt. „The new woman is deeply sensual – hence all the intense textures – often moody and frequently raunchy in that deranged, Betty Blue kind of way. You never know whether she’s just walked out on one lover or if she’s about to go and hunt another one“, schreibt Harriet Quick und feiert damit die Rückkehr der koketten Sinnlichkeit, gehüllt in Kleider mit schwingenden Röcken und herabgerutschten Trägern, Wollpullover überm Spitzennegligé und Overknee-Stiefel zum Zweireiher. Die neue Frau, das ist die Drama Queen von nebenan. Dass sich in der Frauenmode der Gegenwart feminine Eleganz und androgyne Coolness nicht ausschließen müssen, beweisen indes auch die Trendlektionen der Sommersaison 2014: in flatternden Fransen, Bermuda-Shorts mit Bügelfalten, wadenlangen Kleidern, geschlitzten Bleistiftröcken und transparenten Stoffen, soweit das Auge reicht, darf die emanzipierte Damenwelt endlich berufstätig und betörend zugleich aussehen. Konzeptualität und Avantgarde gehen dabei nicht flöten – nur kommen sie mittlerweile ohne Zeltsilhouetten und Badelatschen aus.

In New York lernen wir bei 3.1. Phillip Lim, wie gut durchsichtige Bermudas mit Fransen-Patchwork und voluminöse Jacken mit geologischen Farbschlieren aussehen können. Die feuchte Haarmähne sitzt dazu wie angegossen, scharfe Lässigkeit war eben schon immer Meister Lims Spezialität. Bei Altuzarra setzt die Schärfe wortwörtlich tiefer an: Bleistiftröcke wurden wie mit dem Rasiermesser seitlich aufgeschlitzt, lose Fäden wehen herab, und unter den weit aufgeknöpften Streifenhemden und hauchdünnen button-down-Leibchen kann man die Unterwäsche auch gleich weglassen. Das laisser faire, die Königsdisziplin der Franzosen, beherrschen die New Yorker Modeschöpfer mittlerweile auch nicht schlecht: bei Alexander Wang sehen die Models aus, als seien sie gerade aus dem Bett des Liebhabers gekrochen. Boxershorts in Babyblau und Rosa werden mit nur am obersten Knopf geschlossenen Baumwollhemden kombiniert – ein Styling-Trick, den man sich merken darf. Und wenn Alfons Kaiser in seiner Kollektionsrezension vom „messerscharfen Minimalismus“ schreibt, dann wird er damit wohl die hochgeschlossenen Bauchfrei-Tops zu knielangen Shorts mit Bügelfalte, die geradlinigen Lederkleider mit eingestanztem WANG-Schriftzug und die schweren Plateau-Mules zu raspelkurzen Faltenröcken meinen.

„Clothes you want to wear“, mit diesen Worten ehrt hingegen Nicole Phelps die Kreationen des Kalifoniers Derek Lam. Die neue Midilänge ist im kommenden Sommer ohnehin ein Schlüsselthema, bei Derek Lam verliert sie in Fusion mit tiefen Ausschnitten, schwarz-weißem Vichy-Karo und leuchtendem Gelb auch den letzten Funken an Stiefmütterlichkeit. Fransen dürfen hier ebenso nicht fehlen: das Accessoire der Stunde ist ein leichtes Halstuch mit flatternder Bordüre zum schulterfreien Oberteil.

Minimalismus muss eben nicht immer klinisch aussehen – ein Faktum, das auch der Londoner Designer Christopher Kane mit einer fulminanten Kollektion in schillernden Pastellfarben und raffiniertem Materialmix belegt. Schmal geschnittene, wadenlange Kleider in Flieder oder Pistaziengrün sind mit Cut-Outs in tropfenförmiger Metallic-Einfassung versehen, auf transparentem Netzstoff leuchten in collagenartiger Anordnung Blütenkelchprints im Querschnitt, Pflanzenschemata mit Beschriftung und Pfeilen. Endlich weiß die modebewusste Naturwissenschaftlerin, was sie demnächst im Forschungslabor anzuziehen hat.

Es ist das ausgefeilte Spiel mit Kontrasten, dass den Modeschöpfern in dieser Saison in allen vier Städten so wunderbar gelingt, inspiriert von all den unbeschwert gut gekleideten Frauen auf großstädtischen Straßen, von den Frauen im Chefsessel, diesen dynamischen, risikofreudigen, erfolgreichen und damit unverschämt verführerischen Frauen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Vollbeschäftigung und Selbstständigkeit auch ein neues Selbstbewusstsein entwickelt haben. In aller Deutlichkeit zeigt sich diese Dynamik in der wie üblich meistdiskutiertesten Show des Modemonats: bei Prada streiten sich die Kritiker immer noch, ob sie die Damen in schmalen Trägerkleidern mit darüber getragenen Kristall-Bustiers, den aufgedruckten Konterfeis politischer Rebellinnen, den Ripp-Stulpen und Pelzmänteln mit expressionistischen Kunstwerkprints nun wunderschön oder einfach nur hässlich finden sollen. Eigenwillig und kämpferisch wirken sie in diesem Aufzug allemal, zugleich dank wohl platzierter Ausschnitte und edler Materialien auf rebellische Art und Weise sexy.

Die in der VOGUE beschriebene Lady läuft in Mailand aber auch anderswo über den Laufsteg: zum Beispiel bei Fendi, wo Karl Lagerfeld transparente Lagen von Seide in grafischen Farbübergängen schichtet, Midiröcke und fließende culottes in Korallrot, Orange und irisierendes Blau taucht, die High Heels wie kunstvoll kubistische Gerüste aussehen und Felltaschen mit pelzigen Fratzen behängt sind. Sinnlich architektonisch, so könnte man das nennen, und ebenso weiß Tomas Maier bei Bottega Veneta mit Stoff und Schere zu zaubern: voluminöse Kurzarmhemden werden hier zu drapierten Röcken mit aufwendig gelegten Faltenwürfen getragen, Seidentaft wie ein mille feuille geschichtet, One-Shoulder-Kleider mit gerüschten Trägern versehen. Da haben wir es: Mailand kann doch viel mehr als Blumen und Barock – jedenfalls solange man sich von Dolce & Gabbana fernhält, die dem Modepublikum mit ihrem ewigen Primadonna-Look wohl nur noch ein müdes Mamma Mia entlocken können.

Und in Paris? Da kommen sie alle zusammen, die Spitzen der Schneiderkunst: amerikanische Lässigkeit, britische Konzeptualität, italienische Betörung, französische Grazie. Als einer der wichtigsten Pioniere des neuen Frauenbildes darf Dries van Noten nun wohl endgültig seinen Platz auf dem Pariser Modeolymp sicher wissen – seine Kreationen sprühen nur so vor nonchalantem Kontrastreichtum, versetzt mit Elementen aus der Herrenmode und leuchtendem Goldmetallic. „It was just like the royal family (French, Russian, pick another) disguising themselves as peasants in a futile attempt to escape the revolution“, schreibt Tim Blanks und meint damit die herrliche Harmonie der Gegensätze, zwischen  schweren Leinenhosen und funkelnden Sternencolliers, gepunkteter Seide und Wollpullovern mit üppigem Quastendekor, gold schimmernden Plisseeblüten und grauen Sweatshirts, gerüschten Midikleidern und düsteren Blumenprints, zwischen reicher Opulenz und schlichter Reduktion.

Mit Raf Simons‘ Kollektion für Christian Dior fällt das Anfreunden hingegen zunächst etwas schwerer: so kryptisch und komplex ging es im französischen Modehaus schon lange nicht mehr zu. Fantasievolle Blumengewächse und „Alice Garden“-Schriftzüge auf plissierten Seidenröcken, asymmetrisch geknöpfte Hemdblusenkleider, kurze Jacken mit abstrakt geschichteter Draperie und Gang-Abzeichen, in schmale Stoffstreifen zerschnittene oder aus pastellfarbener Seide geplusterte Ballonröcke, farbige Perlencolliers, die sich wie exotische Schlingpflanzen um Hals und Handgelenk winden und geblümte Volants, die aus strengen Smokingjacken wuchern. Eine etwas schrullige Eleganz hat sich Raf Simons da in dieser Saison ausgedacht, aber auch mit abstrakteren Einfällen wird die selbstbewusste Modefrau von heute etwas anzufangen wissen.

Und was wohl die kugelrunden Absätze unter den Schuhen der Models bei Céline bedeuten sollen? Darf man die gar als Symbol für die neue Macht der Frauen verstehen, die auf großem Fuß lebend den Globus beherrschen? Ein vollblütiges, keckes Erscheinungsbild verleihen die farb- und formenstarken Sommerkreationen mit abstrakten Graffiti-Prints, breiten Schultern, asymmetrischen Röcken aus transparentem Netzstoff und metall-eingefassten Cut-Outs der Trägerin allemal: „The new Céline woman comes from the heart, not the head“, befindet Jo-Ann Furniss darüber in ihrer Show-Rezension.

Vielleicht ein Slogan, den man sich für das neue Frauenbild generell merken darf: komplexe Avantgarde und wohl überlegte Verkleidung ist eben jenem nämlich fremd. Es sind die Frauen, die die Kleider anziehen, nicht andersherum, und entsprechend wirken all die transparenten Stoffe, geschlitzten Röcke, schmalen Midikleider, wehenden Fransen und opulenten Drucke wie eine anmutige Rüstung für Frauen, die betörende Weiblichkeit und unerschrockenes Selbstbewusstsein zugleich ausdrücken wollen. Und ein bisschen Drama, natürlich.