Gar nicht reizend

DER OVERKNEE-STIEFEL KOMMT TATSÄCHLICH AUS DER MÄNNERWELT


Neulich war ich in der Oper, es gab „Othello“ von Verdi. Wer Shakespeares Libretto gelesen hat, weiß, dass in diesem Stück viele mächtige Männer mit ziemlich miesen Moralvorstellungen auftreten. Jago, Cassio und Othello also standen auf der Bühne und sangen sich Wut und Bosheit aus der Seele und dabei trugen sie eine der heißesten Mode-Erscheinungen der aktuellen Wintersaison: nämlich Lederstiefel mit kniehohem Schaft.

Natürlich hätte ich diesen Artikel auch damit beginnen können, dass ich neulich mal wieder „Pretty Woman“ geschaut habe und dort Julia Roberts als Prostituierte ebenfalls in der heißesten Modeerscheinung der aktuellen Wintersaison herumläuft. Aber das wäre nur halb so interessant gewesen. Dass Overknee-Stiefel ein von Bordsteinschwalben gerne gewähltes Kleidungsstück sind, ist ja nichts Neues; viel spannender ist hingegen der Umstand, dass es sich bei dem gewagten Schuhwerk offenbar um einen Trend der spätmittelalterlichen  Herrenmodewelt handelt. Zu Shakespeares Zeiten war Kleidung ohnehin Männersache, die Damenwelt kleidete sich sittsam, der Herr experimentell. Besonders an den Beinen galt es aufzufallen, beliebt waren zum Beispiel auch mi-parti, zweifarbige Beinkleider, man stelle sich mal vor, unsere besseren Hälften würden heute noch so herumlaufen, aber gut, das ist eine andere Geschichte.

Wir halten also fest: der weithin als Nuttenstiefel bekannte Overknee-Schuh ist, streng genommen, ein Kollege von Boyfriendjeans, Zweireiher und Latzhose, also all jenen Kleidungsstücken, die Frauen sich heutzutage gerne von ihren Vätern, Freunden und Ehepartnern ausleihen, weil sie sich darin richtig cool und androgyn und emanzipiert vorkommen. Mit dem einzigen, aber bedeutsamen Unterschied, dass die meisten Männer Frauen in weit geschnittenen Hosen und Overalls gar nicht cool, sondern eher burschikos finden, der kniehohe Stiefel allerdings auch 20 Jahre nach „Pretty Woman“ eine noch immer reichlich anziehende Wirkung versprüht. Ich habe das neulich ausprobiert: in meinen neuen Overknee-Modellen von H&M marschierte ich durch die Stadt, dazu trug ich einen schwarzen Minirock und einen reichlich aus der Form geratenen alten Wollpullover. In diesem Aufzug kam ich an drei Baustellen vorbei, wo kurzfristig die Arbeit eingestellt wurde, um in aller Ruhe feststellen zu können, ob ich käuflich sei oder nicht. Zwei LKW-Fahrer grüßten fröhlich aus dem Wagenfenster heraus, und ein Freund behauptete erst, so könne ich nicht auf die Straße gehen, bevor er später zugab, ich sähe doch ziemlich scharf aus in diesen Stiefeln. Wie kann ein Relikt der Männermode an Frauen so aufreizend erscheinen?Ist es wirklich nur die Assoziation mit dem Rotlichtmilieu, die aus diesen eigentlich ganz gewöhnlichen, winterlichen Lederstiefeln ein betörendes Fetisch-Objekt macht? Warum aber haben leichte Mädchen wohl überhaupt erst angefangen, Overknees zu tragen? Womöglich doch deshalb, weil ihnen das schwere, lederne Schuhwerk eine Erscheinung der Stärke und Dominanz verleihen soll, womit wir wieder beim spätmittelalterlichen Othello auf der Opernbühne wären, der mit seiner Kostümierung sicherlich nichts anderes auszudrücken wünschte. Im Endeffekt werden Overknee-Stiefel dank hohem Schaft, dunklem Leder und massiger Gestalt also zum Inbegriff der textil gewordenen Maskulinität – was Männer an Frauen in Overknees so reizvoll finden, während Latzhosen und Boyfriendjeans ja total unsexy sind, ist demnach eigentlich gar nicht nachvollziehbar.

Und selbst komme ich mir in diesen Schuhen, trotz Absatz und Überkniehöhe, auch gar nicht besonders erotisch vor. Mit dem vielen Leder am Bein könnte ich schließlich ebenso gut zur Wasserpolizei gehen und in flachen Gewässern nach Leichen fischen – in dieser Branche wird der Overknee-Stiefel nämlich ebenfalls gerne eingesetzt.

Stiefel: H&M, Kleid: selbstgeschneidert, Holztasche: & Other Stories.
Rock: Jacquemus, Blazer und Top: Weekday Collection