Schön emanzipiert

ÜBER DAS FRAUENBILD IN DER KUNST

Neulich in Kunstgeschichte. Das Seminar „Aktuelle Kunst in Berlin“ findet jede Woche in einer anderen Galerie statt, diesmal sind wir bei Max Hetzler zu Besuch. Wie üblich überlege ich vorher dreimal, ob ich wirklich hingehen und den Nachmittag mit baumelnden Karabinerhaken, zerstochenen Leinwänden und dubiosen Video-Installationen verbringen will. Moderne Kunst in Berlin ist nichts für schwache Nerven, und für Schöngeister sowieso nicht. Aber heute habe ich Glück: Die Ausstellung „Remember Everything“ präsentiert auch zwei Werke von Richard Phillips, den Kurzfilm First Point und das meterbreite, fotorealistische Gemälde Lindsay IV. Hier sehen wir Miss Lohan in lasziver Faulenzer-Pose an einem kalifornischen Strand bräunen, im schwarzen Bikini, mit großer Sonnenbrille und beiläufig drapierter gelber Haarmähne. Im sechsminütigen Film passiert auch nicht viel mehr: Lindsay am Strand. Lindsay im blauen Neoprenanzug. Lindsay geht surfen.* Ein Paparazzo macht Fotos. Lindsay geht schwimmen. Garniert wird der Streifen mit dramatischer Musik, die auch den nächsten Tatort untermalen könnte.

„Ich habe es satt, als Frau ständig auf dieses passive Lustobjekt degradiert zu werden!“, äußert sich eine Seminarteilnehmerin in der anschließenden Diskussion wutschnaubend. „Dieser Film ist nichts, nur Oberfläche, wie ein Werbespot. Ich habe die ganze Zeit nur auf die Einblendung „Gucci for her“ oder „Armani Code“ gewartet.“
Mit ihrer betont nachlässigen Wollmützenaura sieht mir die Sprecherin ihrerseits eher bedingt nach einem Lustobjekt aus. Von allen Seiten tönt allerdings grummelnde Zustimmung.

Richard Phillips „Lindsay IV“ 2013. © Richard Phillips, Courtesy Richard Phillips & Galerie Max Hetzler, Berlin

Ich, tollkühn, sage: „Ich finde den Film schön, und das Gemälde auch. Lindsay Lohan sieht schön aus, die Szenerie ebenfalls. Die theatralische Musik kann man doch auch als Ironie verstehen, vielleicht ist dieser Film sogar als Persiflage auf die Inszenierung der Frau als Lustobjekt zu verstehen. Jedenfalls schaut man sich den Film gern an, das, was man sieht, gefällt und spricht die Sinne an. Was ist falsch daran?“

Seit diesem Auftritt traue ich mich verständlicherweise nicht mehr zu besagter Lehrveranstaltung. Allein deshalb, weil ich die VOGUE lese und mir die Beine rasiere, war ich bei meinen Kommilitonen wahrscheinlich schon vorher verhasst, weil doch offenkundig rein auf Oberflächen fixiert. Und jetzt das. Was kann die schon von der Kunst wissen. Wir leben doch im 21. Jahrhundert. Da hat die Kunst nicht schön zu sein, verdammt noch mal!

Die Frage, was Richard Phillips in First Point ausdrücken möchte, wird hier ungeklärt bleiben, er selbst hat sich dazu nicht wirklich geäußert. Er habe einen Surf-Film drehen, eine unbehagliche Day-Noir-Stimmung  heraufbeschwören und Lindsay Lohan als berühmt-berüchtigten Hollywoodstar porträtieren wollen, das lässt sich aus dem Interview mit dem Künstler im NY Magazine herauslesen.
Viel spannender ist wohl die Frage nach der Wirkung des Films: offenbar wird der Betrachter hier dazu eingeladen, die gezeigte Frau und ihr Umfeld schön, also sinnlich und ästhetisch zu finden. Das Attribut „schön“ drückt allerdings auch immer das Begehren des Betrachters aus. Lindsay Lohan wirkt hier durchaus attraktiv und begehrenswert, ein Erscheinungsbild, das in gegenwärtiger Kunst nur noch selten zu finden ist. Stattdessen lauert überall die Provokation, das Abgründige, Morbide, Groteske und Gesellschaftskritische. David Shrigley zeichnet menschenfressende Spinnen und Leute ohne Augäpfel und ist deshalb für den Turner Prize nominiert. Im Berliner Boros-Bunker kann man sich aktuell ein rußgeschwärztes Kinderbett anschauen, eine brummende Leuchtstoffröhre, permanent rotierende Autoreifen und eine Maschine, die ohne Unterlass Popcorn produziert, das sich bereits als kleines Gebirge im Ausstellungsraum häuft. Der Künstler, Michael Sailstorfer, will damit die Konsumgier der modernen Welt anprangern.

Gegen soviel kritischen Tiefsinn und künstlerische Nachhaltigkeit wirken Werke wie First Point und Lindsay IV natürlich wie RTL2 gegen Arthaus: oberflächlich und klischeebehaftet. Meine kritischen Kommilitonen halten Richard Phillips jedenfalls für einen sexistischen Vollidioten. Ich allerdings frage mich: Wieso ist klassische Schönheit, und damit auch die schöne Frau als Vertreterin dieser Ästhetik, in der aktuellen Kunst und Kunstrezeption so verpönt? Hängt das mit der Emanzipationsbewegung zusammen? Ist die Bezeichnung der Frau als „schönes Geschlecht“ unmodern geworden? Und muss das dann im Klartext heißen, dass ich als Frau, die sich gerne schön kleidet und schminkt, gar nicht emanzipiert sein kann? Sondern bloß weiter die Rolle des begehrenswerten Lustobjekts bediene?

Zumindest, was die westlichen Länder betrifft, hatten Frauen noch nie so viele Freiheiten wie heute. Frauen können arbeiten, wo sie wollen, Kinder kriegen, wann sie wollen, und anziehen, was sie wollen. Die Emanzipation ist in vollem Gange. Warum sollte man in einer Zeit solch immenser Möglichkeiten ein Kunstobjekt wie First Point noch als Schlag gegen die Autonomie der Frau verstehen? Können weibliches Selbstbewusstsein und klassisch-schöne Attraktivität nicht zusammen existieren? Für ein Auftreten, das sowohl Souveränität als auch Verführungskraft suggeriert, hat die moderne Bekleidungs- und Beautyindustrie doch wohl genug Produkte zu bieten. Wenn man Frauen predigt, schön auszusehen sei nicht mehr zeitgemäß, ist das wahrscheinlich ein ungleich größerer Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Nur weil unsere Spezies heute auch in Bohrmaschinenfirmen arbeiten kann, muss das doch nicht heißen, dass sie nicht mehr begehrenswert sein darf.

Und vielleicht ist auch genau das die Botschaft von Richard Phillips Werk First Point: guck mal, die Lindsay kann super surfen. Und dabei sieht sie auch noch gut aus.

Headerbild: Richard Phillips „First Point“ (Filmstill), 2012, Foto: © Richard Phillips, Courtesy Richard Phillips & Galerie Max Hetzler, Berlin

*Tatsächlich surft in First Point nicht Lindsay Lohan selbst, sondern ihr Double, Kassia Meador. Auf die Interpretation des Films sollte dieser Umstand meiner Ansicht nach aber keinen Einfluss haben.