Modische Blasenentzündung

WER SCHÖN SEIN WILL, MUSS FRIEREN? ÜBER NACKTE BEINE IM WINTER

Gerade habe ich mir den Wetterbericht für Paris angeschaut. 5 Grad Celsius und Niederschlag melden sie für die Île-de-France, da merkt man, Paris ist zwar schöner, aber nicht wärmer als Berlin. Gegen derart ungemütliche Temperaturen scheint das Haute-Couture-Publikum, das in der letzten Woche wieder die Pariser Straßen bevölkerte, allerdings auf erstaunliche Weise gewappnet zu sein. Anders lässt sich kaum erklären, warum dieser Tage wieder so viele nackte Beine durch die französische Modemetropole laufen, als wäre urplötzlich der Lenz ausgebrochen. Die Strumpfhose ist in Pariser Breiten, jedenfalls zur Fashion Week, indes ein exotischer Fremdkörper. Ist denen denn wirklich gar nicht kalt? Beneidenswert.

Fakt ist: auch ich hasse Strumpfhosen. Allzu gerne wäre ich mit jenem seltenen Talent furchtloser Moderedakteurinnen gesegnet, das offenbar dazu befähigt, das Kälteempfinden einfach auszuschalten. Die Nicht-Existenz der Strumpfhose scheint damit auch ein eindeutiger Indikator für modische Professionalität zu sein. Im tiefsten Winter eine Frau ohne Strumpfhose gesichtet? Höchstwahrscheinlich ist sie Fashion Director bei einem namhaften Modemagazin oder Chef-Einkäuferin bei einer Luxusboutique. Diese Leute wissen schließlich, was gutes Aussehen ausmacht, und dazu gehört auch, mit nackten Beinen herumzulaufen. Offenbar sehen viele Outfits ohne Strumpfhose einfach besser aus. Gerade helle oder besonders bunte Kleider wirken zur Hautfarbe natürlicher, weil sommerlich unbeschwert, während die Strumpfhose oft einen erwachsenen, vielleicht auch steifen Touch addiert. Mit dem Mädchen mit nackten Beinen kann man Pferde stehlen gehen, während das Mädchen in Strumpfhosen da schon im Stacheldraht hängen bliebe. Strumpfhosen können kratzen und rutschen, sie haben ständig Löcher und überleben selten mehr als eine Cocktailparty. Strumpfhosen sind Spielverderber.

Zudem wird der Trend zur stilsicheren Blasenentzündung seit jeher auch auf den Laufstegen vorgelebt: egal ob Winter- oder Sommersaison, nur in seltensten Fällen treten die Models hier mit bestrumpften Beinen auf. Die Streetstyle-Bilder der Fashion Weeks erwecken weiterhin stets den Eindruck, als würden die Modewochen in New York, London, Mailand und Paris allesamt im Sommer stattfinden – dabei fiel im Februar 2013 in Mailand sogar Schnee, während die Damen zu flauschigen Pelzjacken nackte Schenkel spazieren führten. Zumindest wird bei derartigen Kombinationen Großmutters Geheimtipp berücksichtigt, wenigstens Brust und Bauch immer schön warm zu halten, was wiederum Urgroßmutters Faustregel „Wer schön sein will, muss leiden“ widerspricht, die ihrerseits wohl niemals aus der Mode kommen wird.

Aber leiden wir der Schönheit zuliebe in unseren hohen Schuhen, unbeweglichen Kokonmänteln, transparenten Seidenkleidern und knallengen Hosen nicht schon genug? Müssen wir uns jetzt auch noch den Po verkühlen, bloß um schön auszusehen? Und wie schön sind nackte Beine im Winter tatsächlich?

Auch in New York ist nicht immer Sommer, und trotzdem sahen wir schon in Sex and the City Mode-Ikone Carrie und ihre Freundinnen niemals mit Strumpfhose herumlaufen. Die Serie wurde offenbar primär im Sommer gedreht, und wenn doch mal Schnee fiel, hieß es Zähne zusammenbeißen und schnell ein Taxi rufen. Eine Praxis, die in New York tatsächlich auch außerhalb modischer Fernsehserien beliebt zu sein scheint: „In New York trage ich im Winter nie Strumpfhosen“, verriet mir kürzlich eine befreundete Amerikanerin. „Wenn ich ausgehe, hüpfe ich einfach schnell von der Wohnung direkt ins Taxi und vom Taxi direkt ins Restaurant.“ Und wenn da kein Taxi ist? „Dann gehe ich halt wieder ins Haus.“ Logisch. Der aktuelle Wetterbericht für New York: –3 Grad Celsius.

Bedeutet Stilsicherheit und Modebewusstsein nicht auch, dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein? Wenn ich wandern gehe, trage ich besser Turnschuhe als High Heels, selbst wenn ich von letzteren gerade ein schönes neues Paar im Schrank stehen habe. Am ersten Praktikumstag sollte man vielleicht nicht im Pelzmantel auftreten, zum Fußballspiel ein Trikot statt eines Versace-Minikleids tragen und beim ersten Kino-Rendezvouz die Diamanten-Ohrringe zu Hause lassen. Ebenso wirken nackte Beine im Schneegestöber nicht schick, sondern affektiert, weil sich die Trägerin hier den klimatischen Umständen zum Trotz verstellt, sich anzieht, als wäre ihr gar nicht kalt, obwohl ihr eigentlich gerade viel mehr nach Kaschmirpulli und langer Unterhose wäre. Noch merkwürdiger: unten nackte Beine, aber obendrüber ein Nerzmantel.

Trotz aller stilistischen Freiheit erfordert Mode auch heute immer noch einen Kontext, sonst macht sie sich und ihre Trägerin lächerlich. Wer lächerlich aussieht, ist nicht mehr schön. Wer schön sein will, sollte nicht leiden, sondern im Winter eine Strumpfhose anziehen.

Headerbild: Søren Jepsen für Vogue.de