Verstofflichte Tiefenentspannung

STATT WURSTPELLE: LUFTIGE BEINKLEIDER

An meine erste Skinny-Jeans kann ich mich noch sehr gut erinnern: dunkelblau, sehr schmal geschnitten, in Größe 128, aus der Zara-Kinderabteilung. Meine Mutter befragte mich dreimal eindringlich, ob ich diese Hose wirklich haben wolle. Zu dem Zeitpunkt waren eigentlich Schlagjeans sehr beliebt, die schmale Form hingegen weniger. Ich schwor auf meinen Kleiderschrank, die Hose auf jeden Fall haben zu müssen, und damit war das Thema erledigt: ich wurde Skinny-Jeans-Pionierin und Fan erster Stunde.

Von jenem Tag an wurde alles, was nicht vorher von meiner Mutter gerettet werden konnte, mit Schere und Faden in eine hautenge Wurstpelle verwandelt. Ein Bootcut-Modell aus dunkelbraunem Cord von Eddie Pen, einer noblen italienischen Kindermodemarke, fiel meinen zweifelhaften Nähkünsten ebenso zum Opfer wie das weit geschnittene Exemplar von Diesel. Ich sehe mich noch auf dem Mädchenklo in der Schule verzweifelt mit aufspringenden Hosennähten kämpfen – zu dem Zeitpunkt bestritt ich meine DIY-Projekte noch mit Tacker und Tesafilm, nicht an der Nähmaschine. Mit meinen engen Hosen wurde ich teil einer gigantischen Modebewegung, die die Damenwelt bis heute buchtstäblich in Atem hält: wohl kein Beinkleid hat sich so flächendeckend und langfristig in der Mode etablieren können wie die Skinny-Hose.

Das ist insofern erstaunlich, als dass die wenigsten Menschen in den knallengen Stoffpellen tatsächlich gut aussehen. Selbst bei schmal gebauten Frauen kann die Skinny-Jeans bisweilen ein bisschen albern, nämlich wie eine Strumpfhose wirken. Korpulente Damen, die besonders gern zum schmalen Beinkleid greifen, täten erst recht besser an einem luftigen Modell. Trotzdem kommt offenbar keiner so richtig von dieser Hose weg, zu der sich fast alles kombinieren lässt: hohe Schuhe, flache Schuhe, Sneakers, lange Mäntel, kurze Mäntel, luftige Blusen, Herrenhemden, Fahrradhelme, Taucheranzüge. Die Skinny-Hose ist das Müsli im Kleiderschrank: jeden Morgen das Gleiche, hineinschnippeln kann man alles, was die Küche hergibt, und schmecken tut es auch jedem – auf Dauer kann es aber doch ein bisschen fantasielos werden.

Und hier kommt die Palazzo-Hose ins Spiel. Die meisten Frauen trauen sich nicht, in solch einem Modell auf die Straße zu gehen, weil sie meinen, darin wie eine unförmige Kartoffel auszusehen. Dabei wurde diese Hosenform einzig zum Vorteil der Frau erfunden. Während man sich in engen Hosen immer irgendwie pummelig vorkommt, weil das permanente Luftanhalten zum Trageerlebnis der Skinny-Hose meist gleich dazugeliefert wird – egal wie anorektisch man auch sein mag – darf man sich in der Palazzo-Hose ebenso pudelwohl wie in der Nobelversion seines Pyjamas fühlen. Noch dazu kommt man sich mit dem ganzen wallenden Stoff um die Beine immer enorm schick und mondän und selbstbewusst vor, fast so, als hätte man ein Ballkleid an, aber nein, es ist ja eine Hose, ganz sportlich und modern! Tatsächlich ist die Palazzo-Hose nichts anderes als verstofflichte Tiefenentspannung.

Natürlich erfordern weite Beinkleider erhöhte Denkleistung vorm Kleiderschrank, weil nicht alles so einfach dazu passt wie zum Luftabschneider-Modell. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Jetzt wünschte ich bloß, ich wäre damals in der 6. Klasse nicht so blöd gewesen, meine schöne weite Diesel-Hose zu zerschneiden.

Alle Bilder: Sandra Semburg. Palazzo-Hose von Odeeh. Blazer von St. Emile. Schuhe Vintage.