„Jogginghosen“, sagte Karl Lagerfeld im April 2010 zu ZDF-Moderator Markus Lanz,„sind ein Zeichen für Niederlage. Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Zitate wie diese sind es, dank derer ich Lagerfeld so verehre, man kann ihm sicherlich gar nicht genug danken für all die modischen Lebensweisheiten, die er in den letzten Jahrzehnten so unters Volk gestreut hat.
Neuerdings bin ich aber verwirrt: für seine neueste Chanel-Kollektion hat Karl Lagerfeld doch tatsächlich Jogginghosen entworfen. Einige haben sogar Löcher. Skandal! Was ist da los? Hat Lagerfeld endgültig die Kontrolle verloren?
Ich besitze keine Jogginghose und hatte bisher auch nicht vor, mir in nächster Zeit eine zuzulegen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, stelle ich fest, dass ich noch nie eine Jogginghose getragen habe. Wirklich nicht! Wenn ich nach einem langen Tag abends nach Hause komme, macht es mir gar nichts aus, im Faltenrock die Tagesschau zu gucken. Alles eine Frage der Disziplin, und man weiß ja nie, wer spontan noch so vorbeikommt. Wenn ich mich krank fühle, ziehe ich meinen Pyjama an und gehe schlafen. Wenn ich vom Sport komme, nehme ich eine Dusche und steige zurück in meine Tagesklamotten. Wenn ich mal was wirklich Gemütliches anziehen will, dann schlüpfe ich in meine orientalisch gemusterte Seidenhose von Sandro, die habe ich mal zwei Nummern zu groß gekauft, weil ich sie unbedingt haben musste, obwohl meine tatsächliche Größe nicht mehr vorhanden war. Etwas Entspannteres als diese Riesenhose kann ich mir kaum vorstellen, und trotzdem könnte ich damit auch vor die Tür gehen, ohne für die Hauptdarstellerin einer Reality-TV-Show auf RTL gehalten zu werden.
Wie man sieht, habe ich die Jogginghose bisher in meinem Leben kein Stück vermisst. Mit der Jogginghose verbinde ich außer Rand und Band geratene Hollywoodstars, die damit den Paparazzi vor ihrer Haustür in die Arme gelaufen und später in den gehässigen Klatschspalten der InTouch gelandet sind. „Britney Spears wieder am Rande des Abgrunds“ gibt’s dort dann zu lesen, und das nur, weil die arme Frau in Jogginghosen vor die Tür getreten ist. Viele dieser berüchtigten Hollywoodhosen sind pastellfarben, von Juicy Couture und ganz sicher nicht zum Joggen geeignet. Für sportliche Aktivitäten ist das labberige Beinkleid so weit ich weiß auch gar nicht vorgesehen, tatsächlich behindert es bei der tatsächlichen Bewegung und ist obendrein nicht atmungsaktiv. Ich kann mir nicht vorstellen, dass darin jemand freiwillig joggen ginge. Wie der aufmerksame Leser mittlerweile verstanden haben wird, habe ich bisher nicht viel von Jogginghosen gehalten.
Seitdem Karl Lagerfeld Jogginghosen auf den Laufsteg schickte, scheinen die Fronten zwischen uns, also zwischen der Jogginghose und mir, allerdings neu geklärt werden zu müssen. Wenn sogar der alte Jogginghosenfeind Lagerfeld Jogginghosen entwirft, muss ich doch selbst modisch ganz schön hinterherhinken. Ich habe das Gefühl, in meinem bisherigen, jogginghosenfreien Leben irgendwas verpasst zu haben. Ich habe das Gefühl, mein modisches Wertesystem gründlich überdenken zu müssen. Ganz im Ernst, was bin ich denn für ein Mensch, der noch nie eine Jogginghose getragen hat? Natürlich war ich schon sehr oft in meinem Leben joggen, allerdings stets in körpernahen Laufleggins. Ich habe ja mal Leichtathletik betrieben, dort rennt man nur in solchen Profihosen, alles andere bedeutet zu viel Stoff und daher zusätzliches Gewicht auf der Laufbahn. Das Problem sehe ich allerdings auch in anderen Lebenslagen: irgendwie hege ich den Verdacht, dass man mit Jogginghosen an den Beinen generell behäbiger und unproduktiver wird. Karl Lagerfeld nennt es Kontrollverlust, ich nenne es die Faulheit zum Anziehen, kaum ist man hinein gestiegen, will man bestimmt auf der Stelle nur noch Fernsehen gucken, Bier trinken und möglichst wenig für die Menschheit leisten. Ich habe Angst vor Faulheit, deshalb habe ich Angst vor Jogginghosen.
Wenn ich noch nie eine Jogginghose getragen habe, heißt das dann, dass ich arbeitsverbissen bin?Diese Angst ist garantiert unbegründet und albern, denn soweit ich das nach bisherigen Recherchen herausfinden konnte, ist die Jogginghose für die meisten Leute nichts weiter als eine Art Modepause zum Überwerfen. Den ganzen Tag über muss man gut aussehen, erst abends darf man, wenn einen außer dem eigenen Sofa keiner mehr anguckt, endlich in das formlose Beinkleid aus flauschigem Jersey steigen.
(Kann nicht sein – traurigerweise musste ich feststellen, dass einen Schreibblockaden auch im Faltenrock ereilen können).
Dass ich an modischer Kontrollwut leide?
Dass ich ständig und überall den unerträglichen Drang verspüre, superschick aussehen zu müssen?
Sind Menschen ohne Jogginghose narzisstischer als Menschen mit Jogginghose?
Ist die Jogginghose am Ende gar das elementarste Kleidungsstück in unserer Garderobe, weil sie als eine Art diplomatischer Gegenpol zu all den hochnäsigen Blazern und Bleistiftröcken und Seidenroben und kompliziert geschnürten Sandaletten in unseren Schränken fungiert?
Wir sehen, über die Jogginghose kann man tatsächlich eine anthroposophische Diskussion führen. Übrigens mache ich mir neuerdings Sorgen über das Schicksal der Jogginghose, denn jetzt, wo sie von Chanel adoptiert wurde, muss das ja heißen, dass sie offiziell kein Gammelkleidungsstück mehr ist, sondern hochgradig schick. Aber selbst wenn Chanel drin steht, findet Karl Lagerfeld weiterhin, dass die Jogginghose eher was für praktische Tage ist – zum Beispiel, wenn man einkaufen gehen muss. So etwas tut man schließlich nicht in High Heels. „If you want to look really ridiculous, you go in stilettos in a supermarket“, gab er Tim Blanks von style.com zu Protokoll, und das ist doch mal eine bodenständige Aussage in Zeiten des immer hemmungsloser werdenden Modekonsums.
Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, dass ich mir mal eine Jogginghose kaufe.