
Was schreibt man eigentlich über eine Modenschau, die in einem Supermarkt stattfand? Inmitten von Tomatenketchup, Kettensägen, Fußmatten, Rasierschaum, Tagliatelle und Dosensuppen? Mit der Inszenierung des jüngsten Chanel-Défilés hat Karl Lagerfeld nicht nur den eigenen genialen Größenwahn übertroffen, sondern auch für die wahrscheinlich größtmögliche Hysterie um eine Modenschau überhaupt gesorgt. Aber Moment, Modenschau? Wer redet denn überhaupt noch von der Mode? Bei den meisten RedakteurInnen scheint angesichts der eindrucksvollen Reizüberflutung des riesigen Shopping-Centers, in den der Grand Palais für die Chanel-Show verwandelt wurde, nicht viel von den Kleidern der neuen Kollektion hängen geblieben zu sein. In zwei Sätzen fasst Tim Blanks in seiner ansonsten überlangen Review für style.com Lagerfelds neueste Kreationen zusammen – was vielleicht daran liegt, dass weder die zerschlissenen Jogginghosen zum Tweedmantel noch die kniehoch geschnürten Turnschuhe wirklich schön anzusehen waren. Aber wen interessiert das noch, beim großen bunten Schaulaufen in Paris?
Selbst wenn man nicht zu den großen Défilés eingeladen wird, geht das achttägige Modespektakel in der französischen Hauptstadt keineswegs sang- und klanglos an einem vorüber. Die Fashion Week elektrisiert ganz Paris. Im Jardin des Tuileries wurde anlässlich der Valentino-Show eigens ein cremefarbener Teppich für die Gäste ausgerollt, um den sich das Heer von Streetstyle-Fotografen und solchen, die es gern wären, gruppierte, um Olivia Palermo und Anna dello Russo bei ihrer ganz persönlichen Laufstegshow besonders vorteilhaft ablichten zu können. Schaut man sich dieses Theater aus nächster Nähe an, findet man es nicht mehr wirklich inspirierend. Sondern eher albern. Suzy Menkes hat diese Entwicklung schon vor zwei Saisons kritisiert. „We were once described as “black crows”(…) Today, the people outside fashion shows are more like peacocks“ schrieb sie unter der Überschrift „The Circus of Fashion“ in der New York Times, und irgendwie scheint es, als habe die Modewelt in den vergangenen Wochen einen neuen Rekord in Sachen knallbunter Scheinheiligkeit aufgestellt. Ob in Chanel’s Supermarkt oder auf dem Teppich der Schauengäste – wer soll sich bei all den Ablenkungsmanövern noch auf die neuen Kreationen der Designer konzentrieren?
Aber warum sind wir noch gleich zur Pariser Modewoche geflogen? Richtig, wegen der Mode. Wegen Raf Simons, Olivier Rousteing, Allessandro Dell’Acqua, Riccardo Tisci und Phoebe Philo, wegen der Köpfe hinter jenen Häusern, die in dieser Saisons wieder wegweisende Ideen für die Mode der Zukunft ersonnen haben. Wollen wir diesen großen Visionären nicht auch mal eine Runde Aufmerksamkeit gönnen? Selbst wenn zeitgleich gerade irgendein Streetstyle-Star im kompletten Valentino-Look durch die Tuilerien rennt? Und selbst wenn sie ihre Kollektionen auf einem durch und durch unspektakulären Laufsteg präsentierten – und nicht zwischen Regalen voller Jambon Cambon und Mademoiselle-Fußmatten?
Ein gutes Beispiel dafür, wie erfrischend ein auf das Wesentliche fokussiertes Défilé doch ausfallen kann, bot eine der letzten Schauen dieses Monats: Louis Vuitton. Als neuer Chefdesigner hat sich Nicolas Ghesquière nicht von den großen Fußstapfen seines Vorgängers Marc Jacobs irritieren lassen und stattdessen eine sehr eigensinnige, verträumt futuristische Kollektion vorgestellt, die im altehrwürdigen Pariser Modehaus sicherlich für ordentlich Wirbel sorgen wird. Zipp-Pullover mit Norwegermuster zu taillenhoch gegürteten A-Linienröcken, Rippstrick zu Jugenstilblüten, Ledermäntel mit abstrakten Farbblöcken, leuchtend rostrote Krokodillederstiefeletten und tief ausgeschnittene Bustierkleider mit dachziegelartig applizierten Federn am Rock – so jugendlich sportlich und zugleich feinsinnig elegant schreitet die Louis-Vuitton-Frau mit der Monogram-Schatulle am Handgelenk in die neue Zukunft des Modehauses. Eine Kollektion, die man sich mehrmals anschauen muss – mit jedem neuen, raffinierten Detail, das man entdeckt, wird sie noch schöner.






Auch Raf Simons ist Purist und Poet zugleich: die Präsentation der neuen Prêt-à-Porter-Kollektion für
Dior fand im Garten des Musée Rodin statt. Dort schrieb der publikumsscheue Designer in dieser Saison Modegeschichte – so spannend war Tragbarkeit nämlich noch nie. Hosenanzüge in Smaragdgrün und Himbeerviolett, Kaschmirschals mit flatterndem Volant am Saum, doppelte Wollkleider mit Schwimmerrücken in funkelnden Neonfarben und mit Dior-typischer Blütenapplikation am Beinschlitz, raffiniert platzierte, sportliche Taillenschnürungen an schwarzen Cocktailkleidern, die auf selbstbewusst charmante Weise der weiblichen Silhouette huldigen, luftig geschnittene Roben aus gestepptem Nylon, doppelreihig geknöpfte Kaschmirmäntel mit architektonisch gewölbten Ärmeln: endlich hat Raf Simons die Marke Dior alltagstauglich gemacht. Ein Modeurteil, das früher einmal niederschmetternd gewesen wäre. Heute steht es für Simons‘ geniale Komposition aus märchenhafter Eleganz und zeitgemäßer Sachlichkeit.



Indes wurde bei
Givenchy das Comeback der Frau gefeiert. Frage: war sie jemals weg, die Frau? Die Mode wird ja bekanntlich gern in zwei Schubladen gesteckt: entweder ist sie jugendlich frech oder erwachsen feminin. Riccardo Tisci gelingt beides auf einen Streich. Nach mehreren Saisons, in denen er sich bei der Erfindung diverser Musthave-Sweatshirts vor allem von der urbanen Jugendkultur inspiriert zu haben schien, lud er in diesem Jahr zu intimen Präsentation einer erstaunlich sinnlichen Kollektion. Flatternde Seidenkleider mit elegant geschnürter Taille wurden mit romantischen, teils bis zur Abstraktion vergrößerten Schmetterlings-Dessins bedruckt, Rüschen in Herzform drapiert und Leopardenmuster mit Foulard-Prints gemixt. Dagegen sorgen maskulin geschnittene Mäntel zu weiten Herrenhosen, kurze Fliegerjacken in Schokoladenbraun und bauhaus-inspirierte, horizontal drapierte Stoffstreifen für einen selbstbewussten Bruch. Weiblichkeit und Avantgarde in trauter Harmonie – so betörend kann die Zukunft aussehen!




Mit Allessandro Dell’Acqua hat sich die Marke
Rochas einen richtigen Künstler ins Haus geholt. Das Markenzeichen des studierten Grafikers: luxuriöse Stickereien in ungewöhnlicher Materialkombination, starke, weibliche Silhouetten, inspiriert von Visconti- und Fellini-Streifen. Dieser Detailreichtum! Raffinierte Schichtungen, geraffte Blütentops, die unter bestickten Bomberblousons hervorwuchern, elegante Midiröcke zu lässigen Cabanjacken, barock geblümtes Jacquard, Pumps mit üppiger Kristallapplikation – und dann natürlich diese Handschuhe,
keypieces der Kollektion. In knalligen Farben – Orange, Zitronengelb, Himmelblau – oder luxuriös mit Federn und Funkelsteinen bestickt, verleihen sie jedem Outfit den letzten royalen und zugleich subtil ironischen Schliff.





Vor der Tür von Dries van Noten marschierte Anna Wintour an mir vorbei – ansonsten schien das Star-Aufgebot bei der Show des belgischen Designers verhältnismäßig schlicht, und Anna war ja schließlich auch der Mode wegen gekommen, nicht der Streetstylefotografen. Zu Recht: Dries van Noten’s neue Kollektion ist eine Art aufgefrischtes Best-Of seines langjährigen Schaffens. In den letzten Monaten hat er für die große Retrospektive „Dries van Noten – Inspirations“ im Musée des Arts Décoratifs schließlich ziemlich viel im eigenen Archiv gewühlt. Wir sehen also wieder Blumen und Blüten, aber was für welche: in schillernden Neonfarben hat Dries Lilien auf Volumenkleider und gestufte Volantröcke gedruckt, außerdem gibt es große Blütenbroschen, die jeden schlichten dunklen Mantel veredeln – ein Einfall, den man sich merken darf für die nächste Wintersaison. Psychedelische Kringelprints brechen die paradiesische Romantik, Hosen sind mit aufgesetzten Zippern versehen, über eleganten Midiroben werden sportliche Fliegerblousons getragen und schlichte Kurzkleider mit doppelten Trompetenärmeln veredelt. Wäre die Mode ein Gedicht, würde es Dries van Noten heißen. Und was, wenn sie ein Supermarkt wäre? Nun, für solche Albernheiten sind ja glücklicherweise andere Leute zuständig.





In Bildern: Pariser Tendenzen im Überblick
Auf Taille gegürtet
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Balmain, Kenzo |
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Isabel Marant, Dries van Noten, Hermès, Céline |
Winterneon
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Vionnet, Kenzo, Dries van Noten, Christian Dior |
Bunte Lederhandschuhe
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Rochas, Christian Wijnants, Veronique Branquinho, Christian Dior |
Drapiert und geschichtet
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Ter et Bantine, Maison Rabih Kayrouz, Christian Wijnants, Sonia Rykiel |
Moosgrün
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Balmain, Isabel Marant, Hermès, Valentino |
Luftige Herrenhosen
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Cédric Charlier, Acne Studios, Isabel Marant, Ter et Bantine, Givenchy |
Ausladende Mantelkrägen
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Céline, Kenzo |
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Christian Wijnants, Hermès |
Raubkatze als Detail
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Givenchy, Chloé, Carven, Balmain |
Mantel + Midikleid
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Cédric Charlier, Dries van Noten, Damir Doma, Maison Rabih Kayrouz |