Beim Café de Flore hatte ich so meine Bedenken. Die klassische Touristen-Attraktion, dachte ich: natürlich möchten alle mal dort ihren café au lait getrunken haben, wo schon Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir über Existenz und Transzendenz philosophierten. Aber will man als anspruchsvoller Paris-Expediteur wirklich dahin, wo alle hinwollen? Wenn ich verreise, versuche ich für gewöhnlich all das zu meiden, was in den großen Reiseführern empfohlen wird: Küstenpromenaden, berühmte Brücken, Kultkneipen, Nationalmuseen. Sobald ich den ersten Chinesen vor einem antiken Denkmal posieren sehe, ergreife ich die Flucht, und als ich einmal im New Yorker MoMa eine Bekannte aus Deutschland erspähte, versteckte ich mich im Buchladen. Im Urlaub will ich mich wie Kolumbus fühlen, unbekannte Orte entdecken, an denen vor mir keiner war, unberührtes Terrain betreten, die Einheimische spielen und ganz bestimmt niemanden treffen, der mich irgendwie daran erinnert, dass ich doch tatsächlich ganz woanders zuhause bin.
Aber wenn man nach Paris fährt, dann geht das alles nicht. Wie sollte man sich in einer Stadt wie die große Entdeckerin fühlen, in der fast jeder schon mal war? Gibt es hier überhaupt noch unberührtes Terrain? Der café au lait ist tatsächlich überall touristenpreisig teuer, da kann man ihn auch gleich im Café de Flore trinken. Hier sitze ich jetzt, esse das knusprigste Croissant meines Lebens, und das, obwohl ich eigentlich gar kein Croissant mag. Es schmeckt köstlich. In den großen, blank geputzten Spiegeln beobachte ich die routinierte Eile der Kellner, schwarze Fliege, weißes Hemd, Tabletts mit chocolat chaud und brioche über ihren Köpfen balancierend. Am Nebentisch sitzt ein distinguierter Franzose im dunkelblauen Anzug, liest Le Monde und tunkt seine Baguette in das geköpfte Frühstücksei. Wo sind die Touristen? Schon im Louvre?
Ich beschließe, den ganzen Tag im Café de Flore zu bleiben, schließlich bin ich ganze sieben Tage in Paris, da kann man es sich schon mal leisten, eine grasse matinée einzulegen. So nennt der Franzose einen verschlafenen Vormittag. Ich bestelle noch einen café creme für sagenhafte 5,70 €. Zurück in Berlin werde ich wohl ein paar Wochen hungern müssen, aber solange ich in Paris bin, ist an Sparen nicht zu denken. Ich bin schließlich nicht hergekommen, um mich von Dosenravioli zu ernähren. Wo sonst ließe sich der Dekadenz und dem savoir vivre besser frönen als in der französischen Hauptstadt? Wen kümmert hier, wie der Kontostand morgen aussieht?
Bevor ich nun schon zum dritten Mal nach Paris flog, hatte ich ein paar böse Stimmen über das Flair der Stadt vernommen. Paris werde nicht nur immer teurer, sondern sei auch generell ziemlich überbewertet – die Straßen schmutzig, die Menschen arrogant, das Essen schlecht. „Auch in Paris wird Champagner zu Pisse“, schrieb Fabian Hart in gewohnt unverblümter Tonart in sein Blog. Die Stadt sei „eine Postkarte mit erwartbaren Motiven, dazwischen dunkle Ecken, Schand und Kehrseiten.“ So sehr ich den Kollegen aus Hamburg schätze, in diesem Fall muss ich doch vehement widersprechen. Es stimmt: auch Paris, die Stadt der Liebe, des Luxus, der Mode, der herrschaftlichen Paläste und Gärten, der dekadenten Restaurants, hochnäsigen Kellner und café cremes für 5,70€, hat ihre Schattenseiten. Aber welche Millionenmetropole hätte das nicht? Was dachte Herr Hart wohl – dass die Franzosen ihren Schaumwein nicht auch irgendwann verdauen müssen? Dass Paris gelegentlich wirklich schockierend schmutzig und elend sein kann, fällt einem nur deshalb auf, weil die traumhafte Schönheit dieser Stadt in so deutlichem Kontrast dazu steht. Wo Sonne ist, da ist auch Schatten, bah alors, wer hätte das gedacht.
Was Paris so einzigartig macht, ist der authentische Sinn für Kultur und Stil, die nonchalante Eleganz, die den Parisern und ihrer Stadt naturellement angeboren zu scheint. Diese mondänen Boulevards! Die hübsch gekachelten Métro-Stationen! Die gewundenen Balkonbalustraden, dicht bewachsenen Dachgärten, verlockend mit tarte aux framboises und gâteau au chocolat bestückten Schaufenster der Patisserien, die schmucken kleinen Gassen in Saint-Germain-des-Prés, die grünen Gartenstühle in den Tuilerien, die Straßencafés im Marais, die von schmucken Zäunen umzogenen Jardins mitten in der Stadt, der dramatisch bewölkte Abendhimmel über dem Pont Royal! Es stimmt, all das sind altbekannte Postkartenbilder. Aber warum sollte das ihre Schönheit schmälern? Paris ist eine bis ins kleinste Detail original elegante Stadt. Selbst die Fahrräder an den öffentlichen Vélib-Stationen sind stilvoller als anderswo, nämlich zurückhaltend grau, dazu passt jedes extravagante Outfit, und im Fahrradkorb kann man seine Handtasche plazieren. Solche Details sind wichtig in einer so gut gekleideten Metropole, noch dazu während der Modewoche. Und wer hat noch mal behauptet, die Franzosen wären unfreundlich? Tatsächlich sind mir in den letzten Tagen fast nur zuvorkommend freundliche Leute begegnet, liebenswürdige Damen, die einem bereitwillig den Weg erklären, charmante Kellner, die gerne mal ein Kompliment fallen lassen, Postbeamte, die von les Allemands schwärmen. „Mais oui, Madame, merci beaucoup Madame, j’adore votre chaussures, Madame, bonne journée, Madame!“ Allein die französische Sprache klingt ja schon so liebenswürdig und höflich.
Der Vorteil daran, eine ganze Woche in Paris zu verbringen, ist, dass man ganz ohne Eile die Atmosphäre der Stadt genießen kann, ohne von einer Sehenswürdigkeit und einem Viertel zum nächsten hetzen zu müssen, weil man ja in 24 Stunden schon wieder abreist. Tatsächlich war ich in den letzten sieben Tagen in nur zwei Museen – einmal im Musée Rodin, wo ich Carine Roitfeld über den Weg lief, weil dort zufällig gerade auch die Show von Christian Dior stattfand – und dann natürlich im Musée des Arts Décoratifs. Am 1. März wurde dort die Ausstellung „Dries van Noten – Inspirations“ eröffnet“, eine großartige Retrospektive, in der neben den ikonischsten Kreationen des belgischen Designers auch ausgewählte Kunstwerke, die seine Arbeit beeinflußt haben, ausgestellt sind.
Und sonst? Kein Abstecher ins Musée d’Orsay? Kein Anstehen für die Mona Lisa im Louvre? Keine Konzeptkunst im Centre Pompidou? Nein, dieses Mal kein Touristen-Pflichtprogramm. Wie sagte Erich Kästner doch so treffend? „Die Törichten besuchen in fremden Ländern die Museen. Die Weisen aber gehen in die Tavernen.“ Pariser Luft atmet man am besten beim Spaziergang an der Seine, beim Streifzug durch den Palais Royal, beim Erkunden der Galerien auf der Rive Gauche. Und selbst wenn es in Strömen regnet – was Ende Februar leider keine Seltenheit ist – muss man Paris einfach immer noch zauberhaft finden. Das ist das Geheimnis dieser Stadt: selbst im Schatten strahlt sie noch.





































