Was trage ich am Strand?

ANTWORT: EIN HERRENHEMD

Der Strand wird als Schauplatz des gesellschaftlichen Lebens grundlegend unterschätzt. Üblicherweise bewegt sich der Mensch während seiner Freizeit am Meeresufer, also in einem Zustand mentaler Gelassenheit, was wiederum der Grund dafür sein muss, dass viele Leute im Urlaub auch modisch betrachtet gerne mal die Beine hochlegen. These: am Kofferinhalt eines durchschnittlichen Urlaubsreisenden lässt sich exemplarisch festmachen, warum der Mensch überhaupt schöne Kleider kauft – nämlich, um seinen Nachbarn und Mitbürgern zu imponieren. Sobald er sich auf fremdem Staatsterrain und damit unter Unbekannten bewegt, wird die Funktionskleidung ausgepackt, denn im Ausland kennt mich ja keiner, also muss ich auch niemanden beeindrucken.

Wir Deutschen sind in dieser Disziplin ferienmodischer Bescheidenheit nach wie vor Spitzenreiter. Neulich war ich auf Mallorca. Für eine Feldstudie im Bereich deutscher Geschmacklosigkeit gibt es auf der spanischen Ferieninsel ja bekanntlich am meisten Anschauungsmaterial. Manchmal gibt es aber auch gar kein Material, zum Beispiel am Strand, wo die urdeutsche Tradition der Freikörperkultur nach wie vor große Popularität genießt. Wie ich mich also neulich auf Mallorca am Meer aufhielt, sonnte sich dort keine drei Meter von meinem Badehandtuch entfernt eine heitere Gruppe unbekleideter Landsleute. Ölige Speckringe in der Nachmittagssonne, schweißglänzende Lenden, zerknitterte Hängebusen.

Wer begibt sich in solch ausgeleiertem Zustand freiwillig ohne Oberbekleidung in die Öffentlichkeit? In den 60er und 70er Jahren war Nacktheit ja vielleicht noch eine Form von Protest. Heute beeindruckt man mit blanken Brüsten keinen mehr, ein politisches Motiv konnten meine Strandnachbarn also nicht gehabt haben. Ob sie die Grenzen der oben beschriebenen, reisebedingten Modefaulheit ausreizen wollten? Kann ich mir auch nicht vorstellen, denn tatsächlich ist es weniger Arbeit, sich irgendwas als gar nichts anzuziehen. Im nackten Zustand muss man sich schließlich die abschätzigen Blicke von spießigen Strandnachbarn (wie mir zum Beispiel) gefallen lassen und außerdem mehr Körperteile mit Sonnenschutz eincremen.

Nach eingehendem Kopfzerbrechen kam ich somit zu dem simplen Schluss, dass die Herrschaften wahrscheinlich einfach nicht wussten, was sie am Strand eigentlich anziehen sollten. Wie gesagt: man sollte diesen Ort als modische Bühne nicht unterbewerten! Schnell wird die Promenade zum Laufsteg, wenn doch mal Bekannte aus der Heimat auftauchen und man plötzlich sich und sein schlumpiges Aussehen erklären muss, außerdem ein interessanter Jüngling erspäht wurde, mit dem sich eventuell ein Urlaubsflirt anbahnen könnte – und überhaupt, was ist das eigentlich für eine merkwürdige Atmosphäre, wenn sich lauter leicht bekleidete Menschen im geistigen Stand-by-Modus auf solch engem Raum aufhalten? Zu allem Übel steht der unbekümmerten touristischen Modefaulheit ja noch das Argument entgegen, dass man als Landsfremder bei den Einheimischen vielleicht doch keinen allzu schlechten Eindruck hinterlassen sollte. Schließlich will man ja wiederkommen. Und stehen wir als Reisende nicht alle in der Pflicht, unsere Nation im Ausland ehrenvoll zu repräsentieren?

So mag die Sorge, zum falschen Strandkleid zu greifen, meine unseligen Strandnachbarn am Strand von Mallorca in eine Modekrise größeren Ausmaßes getrieben haben. In aller Verzweiflung entschieden sie kurzerhand, kollektiv blank zu ziehen. An dieser Stelle kommen wir Modejournalisten ins Spiel: als stilistische Berater und Meinungsmacher ist es unsere Mission, den Leuten angemessene Bekleidungsvorschläge für Lebenssituationen unterschiedlichster Art zu machen. Ich selbst frage mich ja auch immer, was man am Strand eigentlich anziehen soll. Meine guten Kleider sind mir für die Sandfläche zu schade, Shorts sind unpraktisch, weil man sich darunter nicht umziehen kann, und der Pareo, jene unsägliche Kreuzung aus Lendenschurz und Gummirock, ist genauso hässlich wie seine Bezeichnung vermuten lässt. Sowohl im allgemeinen als im persönlichen Interesse habe ich nun deshalb sorgfältige Forschungsarbeit geleistet und schlussendlich herausgefunden, dass sich als Stranddress am allerbesten das klassische weiße Herrenhemd eignet.

Wieso sind wir da nicht früher draufgekommen! Das Herrenhemd stimmt alle froh: es ist luftig, leicht und blitzschnell übergeworfen, die Baumwolle kühlt, man kann darunter einen bunten Bikini tragen, der dann pfiffig zwischen den Knöpfen hervorschimmert, Problemzonen werden kaschiert, in Zeiten des Céline-Wahns ist das Stück auch noch ein saucooles It-Piece, und für alle, die sich nichts aus Céline und It-Pieces machen, einfach das, was es ist: nämlich ein weißes Hemd mit Knöpfen, mit dem man niemals (NIEMALS!) etwas falsch machen kann. Zudem wäre da noch jener subtile Verführungsfaktor: schließlich ist das Herrenhemd bei vielen Frauen auch als postkoitales Kleidungsstück beliebt, geklaut aus dem Kleiderschrank des Bettgenossen. Frauen im Herrenhemd sehen dem Klischee nach immer rosig und zerzaust zugleich aus. Das passt doch zum Strand: rosig und zerzaust ist man schließlich auch, wenn man gerade mit verrutschtem Bikini aus dem Meer kommt. Und dabei die verlegenen Blicke aller anwesenden männlichen Strandbesucher spürt. Ich sag doch: der Strand als gesellschaftliche Bühne…

Foto von Stephanie Pfaender