Zopfkopf

DAHINTER STECKT VIEL MEHR ALS NUR EIN TREND: BRAIDS SIND KULTURGUT 

In der 10. Klasse wohnte ich mal für ein halbes Auslandsjahr in einem südafrikanischen Mädcheninternat. Das Aufregendste an der ganzen Angelegenheit war natürlich das Hausen in Mehrbettzimmern: dort schließen Internatsbewohnerinnen bekanntlich Freundschaften fürs Leben. Meine roomie hieß Sebo. Sie hatte schokoladenfarbene Haut, aß jeden Morgen drei Eier zum Frühstück und trug ihr dickes Haar zu feinen Zöpfchen geflochten. Spannend wurde es bei der abendlichen Pflege-Prozedur dieses Flechtkunstwerks: Sebo hatte nämlich die Angewohnheit, sich vor dem Zubettgehen eine Strumpfhose über den Rasta-Kopf zu ziehen und dort oben zu einem Knödel zusammen zu zwirbeln. „It’s good for ma braids“, erklärte sie auf Nachfrage.

Ihre Flechtfrisur ist der Südafrikanerin so heilig wie der Inderin ihr Rindvieh. Braids haben einen eigenen Wikipedia-Eintrag, es gibt sie in unzähligen Variationen, bei den ostafrikanischen Massai haben sie sogar eine religiöse Bedeutung. In Südafrika geht der Kult wohl nicht ganz so weit – trotzdem ist das Haareflechten hier zumindest bei der farbigen Bevölkerung eine Art Volkssport. Während sich meine weißen Mitschülerinnen auf dem Hockeyplatz die Bälle um die Ohren schlugen, kamen Sebo und ihre Gang alle drei Tage mit neuen Zopffrisuren aus Penny Moleleki’s barber shop. Der Besuch beim Friseur gehört zum wöchentlichen Pflichtprogramm, dort verbringt man ganze Nachmittage in geselliger Runde, schnattert Xhosa und lässt sich die Mähne zu aufwendigen Rasta-Zöpfchen flechten. Bis ich verstanden hatte, dass braids weit mehr bedeuten als bloß die launige Verwandlung des Haarschopfs – nämlich Zugehörigkeit signalisieren, ein Kulturgut darstellen und als großartiger Vorwand für stundenlanges gemeinsames Faulenzen auch so etwas wie ein Kommunikationsmedium sind – war meine Zeit in Südafrika schon wieder rum.

Umso besser, dass es die braids nun endlich auch nach Übersee geschafft haben – und zwar auf die Laufstege der großen Modehäuser. Bei der letzten Show von Givenchy trugen die Models eine kunstvoll am Hinterkopf verschlungene Version der Flechtfrisur. Marc by Marc Jacobs kombinierte fein geknüpfte Zöpfchen zu konzeptuell-eleganter Grunge-Ghetto-Mode. Auch zu mädchenhaften Kleidern passt der Rastaschopf hervorragend – so gesehen bei Marchesa, wo braids mit paradiesisch bestickten Chiffonroben harmonierten. Bei Alexander McQueen gab es die wohl aufwendigste Variante der Zopffrisur zu bewundern: ellenlange Flechten wurden hier in aufgereihten Ringen um den Kopf gewunden. Wood Wood beweist dagegen, dass Rastahaare durchaus auch lässig kommen können: zu Fischerhosen und Pyjamahemden wuchert die afrikanische Zopffrisur hier in zerzauster Version unter marineblauen Topfhüten hervor. Wenn sich sogar die sleeken Skandinavier neuerdings mit derart verspielter Haarmode anfreunden, müssen wir es hier ganz offensichtlich mit einem richtungsweisenden Trend zu tun haben. Und was der praktisch orientierten Nordeuropäerin im ersten Moment noch nach überflüssiger Zeitverschwendung vor dem Badezimmerspiegel aussehen mag, beweist bei näherer Betrachtung weitaus mehr Charme als vermutet.

Man kann diese These auch ganz exemplarisch an einer der erfolgreichsten Fernsehserien des 21. Jahrhunderts belegen: GIRLS. Spätestens seit der dritten Staffel sind mir hier fast alle Protagonistinnen schrecklich unsympathisch geworden. Hannah: quengelig und selbstmitleidig. Marnie: zickig und hilflos. Jessa: bemitleidenswerter Junkie. Die vierte im Bunde, Shoshanna, fand ich am Anfang am unerträglichsten von allen. Mittlerweile kristallisiert sich aber heraus, dass sie tatsächlich der heimliche Star der Serie ist. Dazu mögen sicherlich auch ihre abgefahrenen Frisuren beitragen. Shosh ist gerne mal mit Vogelnest in Stirnnähe unterwegs, mit asymmetrisch aufgezwirbeltem Dutt oder drei haarigen Hörnern auf dem Kopf. Ihre Spezialität: Flechtfrisuren. In Zeiten des ewig glattgeföhnten Minimalismus, dem viele Frauen der westlichen Welt am liebsten mit Nackendutt und messerscharf geteiltem Mittelscheitel nacheifern, wirkt ein so aufwendig umdekorierter Haarschopf angenehm erfrischend. Was wir daraus lernen: für ein originelles Aussehen muss man gar keine teuren Kleider kaufen – jedem Menschen, der Haare hat, wächst es schließlich auf dem Kopf.

Zudem eignen sich Flechtfrisuren auch als hervorragende Geheimwaffe gegen bad hair days. Das Haar fällt nicht, wie es fallen soll? Dann mach‘ doch Zöpfe draus. Meine Schwester wäre dafür zum Beispiel eine ideale Kandidatin. Sie hat eine tolle Mähne, leidet jedoch seit ihrem zehnten Lebensjahr an einem chronisch eingebildeten bad hair day. Jedes Mal, wenn wir zusammen vorm Spiegel stehen, muss ich mir das gleiche Gejammer anhören. Wenn ich sie das nächste Mal sehe, werde ich sie an einen Stuhl fesseln und ihr die Haare zu feinen Zöpfchen à la Usain Bolt flechten. Vielleicht ist dann, mit Siegerfrisur auf dem Kopf, endlich mal Ruhe im Karton.

Damit kommen wir auch wieder zurück zur schönsten Eigenschaft der braids: nämlich dem Erlebnis der Geselligkeit, das damit einhergeht. So einen Zopfkopf kann man sich nicht mal eben allein vor dem Badezimmerspiegel zaubern. Stattdessen braucht man mindestens eine Freundin mit geduldigen Händen, und da haben wir es wieder: das gemeinschaftliche Kulturereignis Haareflechten, so wie bei Sebo und ihren Xhosa-Girls. Oder wie bei Downton Abbey, wo Kammerzofe Anna Lady Mary die Haare flicht und gleichzeitig zur besten Freundin wird. Komplizierte Frisuren mögen aufwendig erscheinen, dabei sorgen sie aber für besondere Momente der frauenfreundschaftlichen Intimität. Jahrelang haben wir uns mit Glätteisen und Anti-Frizz-Tuben traktiert, um den glattesten, makellosesten und langweiligsten Haarschopf gebuhlt. Braids machen uns dagegen zu Mitgliedern einer inoffiziellen Gang, die sich nachmittags zum Zöpfeflechten versammelt und dabei wichtige Geschichten austauscht. Ich wünschte, Penny Moleleki hätte hier in Berlin einen Ableger ihres barber shops. Ich wäre Stammgast.

Laufstegbilder über style.com. Moodbilder via Karlas’s Closet