Als ich klein war, gingen meine Mutter und ich alle halbe Jahr einmal ordentlich einkaufen. Der Einkaufssamstag wurde Wochen vorher im Kalender eingetragen, und bereits einige Tage vor diesem modischen Großereignis verbrachte ich schlaflose Nächte über dem Cyrillus-Katalog brütend, träumte von weißen Volantkleidern und Duffle-Coats mit Karo-Futter, knickte Eselsohren in die Katalogseiten, sah mich in babyblauen Caprihosen am Strand von Sardinien flanieren. Einkaufsleidenschaft erwacht früh, einige der größten Mode-Ikonen unserer Zeit gestehen in Interviews oft und gern, bereits als Sechsjährige mehr Schuhe als Legosteine gehortet zu haben.
Einmal entdeckte ich bei Cyrillus eine rosa-karierte Vichy-Bluse, bauchfrei. Ich war entzückt, aber meine Mutter, oberste Richterin meines siebenjährigen Stilempfindens, blieb eisern – Mütter sind das größte Hindernis früherwachter fashionistas – und sagte den einen vernichtenden Satz:
„Darin siehst du nicht angezogen aus.“
Das war die erste Moderegel, die meine Mutter mir als Kind predigte: du musst angezogen aussehen. Ich habe nie verstanden, was an der Vichy-Bluse meiner Träume nicht anziehend sein könnte, für meine Begriffe war mein Körper damit aufs Vorteilhafteste eingekleidet. Tatsächlich geht die Definition dieses ominösen Angezogenseins aber weit über die Frage hinaus, wie viel Kinderbauch ein kariertes Stück Stoff enthüllen darf. Bis heute sagt es mir wenig, dieses sogenannte Angezogen. Mit Kleidern angezogen sein, das habe ich mir irgendwie einfacher vorgestellt.
Die Laufstege bieten nun Anlass, die Debatte wieder einmal neu aufrollen: Gucci zeigte jüngst einen federleichtes Büstenhalter aus Netzstoff, Balenciaga eine noble Version des Sport-BHs in Cremeweiß. Und bei Isabel Marant gab es bereits in der Sommerkollektion 2014 BHs aus Spitze als Oberbekleidung zu sehen. Tatsache ist: rein technisch gesehen sind Frauen in solchem Aufzug definitiv nicht angezogen. Erstaunlicherweise ist diese skandalöse Modeerscheinung in den Analysen der Trendberichterstattung bisher aber so gut wie unbeachtet geblieben. Dabei erinnert der BH an den viel diskutierten Unterhosentrend von 2012: Damals schickten Marc Jacobs und Kollegen mit Vorliebe Models in komplett mit Handtasche und Trenchcoat ausgestatteten Outfits auf den Laufsteg – nur die Hose fehlte! Der Versuch, den Slip als öffentlich anerkanntes Kleidungsstück salonfähig zu machen, scheiterte dennoch, bis heute wird man vermutlich verhaftet, wenn man nur in Unterhose auf die Straße geht, selbst wenn man High Heels von Charlotte Olympia dazu trägt. „Eine Mode, die man nicht auf der Straße sieht, ist keine Mode“, wusste schon Coco Chanel. Aber wie steht es mit dem Büstenhalter?

Ich persönlich muss ja gestehen, längst sehnsüchtig darauf gewartet zu haben, dass endlich mal ein Designer den BH als Oberteil legalisiert. Denn tatsächlich stehe ich gar nicht selten vorm Spiegel und weiß nicht, was ich anziehen soll. Oder habe bereits eine Hose an, will aber partout das passende Top nicht finden. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll es vielen Frauen ähnlich gehen. Da könnte Isabel Marant nun zur modischen Erlöserin werden: wenn wir nicht wissen, was wir anziehen sollen, können wir ihrer Ansicht nach auch einfach gar nichts anziehen, zumindest obenrum. Wenn der BH, den wir dann statt richtiger Kleidung tragen, aus Schweizer Spitze und von einer hippen französischen Luxusdesignerin entworfen ist, sind wir dann immer noch theoretisch und praktisch gesehen topless unterwegs? Oder, trotz aller Nacktheit, angezogen?
Vielleicht darf man dieses Wort in diesem Zusammenhang gar nicht im Sinne von bekleidet verstehen. Ständig begegne ich Leuten, die hundert Kleiderschichten übereinander tragen, Bluse über T-Shirt über Rolli, Pullover um die Hüfte, Hose gekrempelt, dazu Ringelsocken, Schnürschuhe, obendrauf ein Hut und drumherum eine Fransentasche. Technisch betrachtet sind diese Menschen angezogener als die Models auf dem Laufsteg von Isabel Marant. Aber modisch gesehen? Häufig mutet der Zwiebellook unangenehm gewollt an. Moderegel Nr. 2: Gewollt ist das Gegenteil von Angezogen.
Dagegen kann man in einem einzigen Kleidungsstück, das sitzt, passt, originell und gut geschnitten ist sowie der Persönlichkeit der Trägerin entspricht, sehr wohl angezogen sein. All diese Kriterien bei der morgendlichen Kleiderwahl zu erfüllen ist allerdings gar nicht so einfach. Kleider anziehen, angezogen sein und anziehend erscheinen ist und bleibt eine Wissenschaft für sich. Manchmal sieht man das Outfit vor lauter Kleidern nicht. Wahrscheinlich ist es deshalb wirklich längst an der Zeit, dass wir uns einen richtig guten Spitzen-BH anschaffen und bei aufkommender modischer Planlosigkeit so auf die Straße gehen. Nur Mut! Vielleicht wage ich mich demnächst sogar an solch einen ungezogen angezogenen Outfit-Beitrag, zu Inspirationszwecken für skeptische Leserinnen. Muss ich bloß vorher noch mit Maman abklären.
Headerbild: Gucci Spring 2016. Alle Laufstegbilder über Vogue Runway.
