Diese Saison habe ich die Berliner Modewoche geschwänzt. Ich bin abgehauen nach Italien, an den Lago di Garda, um meine Schwimmhäute zu pflegen, viel gelato zu essen und die Lektüre von gefühlt dreißig Büchern nachzuholen, die ich schon im April fürs Studium hätte gelesen haben sollen. Denn so schön der Heimaturlaub in Berlin sein kann, gelegentlich muss man doch auch mal raus aus dem Trubel und das Weite suchen, selbst wenn der Zeitpunkt der Fashion Week dafür denkbar ungünstig erscheint.
Tatsächlich habe ich die Abstinenz vom großen Klassentreffen der Berliner Modewelt als sehr erfrischend empfunden. Denn manchmal sorgt die (Rück-)Sicht von außen für ganz spannende Erkenntnisse. In den letzten Jahren bin ich im Dauerlauf der Fashion Week von Schau zu Schau gehetzt und hatte in der Regel am dritten Tag schon keine Lust mehr auf das ganze Spektakel. Es fehlten die Highlights, die zauberhaften Modemomente, die bahnbrechenden Neuigkeiten und modischen Provokationen. Die vielzitierte Tragbarkeit, Lässigkeit und Geradlinigkeit des Berliner Stils beschrieb ich als langweilig, wenn nicht sogar gefährlich, schließlich sei der Blick zurück der Tod der Mode, sie müsse sich vorwärts entwickeln. Die Ideen der Berliner Designer würden bloß jede Saison mit kaum veränderter Rezeptur neu aufgewärmt werden, es gäbe kaum Überraschungen, viel Schlichtes, wenn nicht sogar Spießiges – kurzum: Berlin sei leider keine Stadt, die modische Revolutionen in Gang setzen könne. Jede Saison das gleiche Gejammer.
Nun bin ich aus dem Urlaub zurückgekommen und habe gleich mal auf style.com vorbeigeschaut, um beim Anblick all der spannenden Modeereignisse, die mir während des Beinehochlegens in Italien entgangen sind, ganz graue Haare zu bekommen. Die schönste Sensation der Woche: Søren Jepsen, Fotograf des dänischen Streetstyle-Blogs The Locals, hat eigens für style.com die bestgekleideten Leute auf Berliner Straßen abgelichtet. Die Straße ist, das weiß jedes Kind von New York bis Mailand, seit vielen Saisons Schauplatz der Schau vor der Schau – und damit nicht nur Konkurrenz für die Défilés, sondern auch praktischer Austragungsort der feinen Laufstegmode. Wie die Leute auf der Straße, so der Modestil der Stadt, das ist der Ursprungsgedanke des Phänomens Streetstyle – und dabei dürfte es kaum eine Metropole geben, die eben dem näher kommt als Berlin. Denn hier zieht man noch an, worauf man Lust hat, und nicht das, was das PR-Büro einer großen Luxusfirma gerne von Tommy Ton fotografiert haben will. Streetstyle in seiner reinsten Form: das vermitteln die Berliner Schnappschüsse von Søren Jepsen.
Wir sehen dort keine Frauen in raffiniert drapierten Lagenlooks aus zehn verschiedenfarbig bedruckten Kleidungsstücken, keine Handtaschen mit knallbunten Fellbommeln, keine himmelblauen Smokings mit Kussmundohrringen, um die Hüfte geschlungenen Kenzo-Pullover und klimpernden Designerhandtaschen im Dreierpack. Berlin ist keine Zirkusmanege, sondern ein heiter-entspannter Treffpunkt von Leuten, die Mode für sich selbst anziehen und interpretieren, nicht für ein großes gaffendes Publikum, das es mit möglichst viel Exzentrik zu beeindrucken gilt. Dabei gibt es eine bunte Mischung unterschiedlichster Stilrichtungen zu entdecken: Berlin kann den intellektuellen Galeristenchic mit Bleistiftrock und High Heels, Berlin kann Subkultur mit Lederhoodie und Rastazöpfen, Berlin kann elegante Coolness im Lala-Berlin-Kaftan zu Nike-Sneakern, Berlin kann bequem aussehen und ist dabei trotzdem nicht langweilig. Denn tatsächlich ist es doch die weitaus größere Kunst, im selbstkombinierten Outfit aus Hose und Bluse originell auszuschauen als im Valentino-Komplettlook, in dem Anna dello Russo so gerne in Mailand herumstolziert.
Interessanterweise sieht man, wenn man genau hinschaut, auf diesen Bildern all das, was die Deutschen am besten können: Zurückhaltung mit einem wohl platzierten Funken Individualität und Frische, Qualität statt Quantität. Ich klage ja gern über die deutsche Bescheidenheit, aber gerade erst letzten Dienstag, beim legendären 7:1-Sieg des deutschen Fußballteams gegen die Brasilianer, habe ich die oft belächelten Tugenden unserer Nation doch plötzlich sehr zu schätzen gelernt. Die Deutschen spielen nicht Fußball wie Zauberer, sondern wie ein sauber getaktetes Uhrwerk. Und so wie unsere Nation Fußball spielt, so zieht sie sich auch an: ohne großes Spektakel, dafür mit subtiler Kreativität. Dazu passt wiederum die Mode auf den Laufstegen unserer Designer: die ist nicht bombastisch und fantastisch, allerdings auch kein schlechter Abklatsch der Pariser Avantgarde oder Mailänder Verführung. Sondern eigenständig berlinerisch, freundlich, luftig, cool – eben so, wie sich das deutsche Modevolk auch auf der Straße zeigt. Einen stadteigenen Stil hat Berlin damit allemal. Und das ist doch schon etwas, worauf man stolz sein darf.