Rückenfreie Kleider

SIND SO SCHÖN WIE FREIHÄNDIG FAHRRADFAHREN

Mein ultimatives Sommeroutfit ist so primitiv wie Erbsensuppe und funktioniert folgendermaßen: ich nehme mein schönstes Seidentuch und knote es mir nach dieser Anleitung um den Oberkörper. Dazu trage ich je nach Aufenthaltsort eine Bikinihose oder Taillenshorts, ein Eis in der Hand und kein Make-Up im Gesicht. Das Tollste an der ganzen Sache ist dabei weder mein schönes Seidentuch noch das tropfende Eis in der Waffel noch meine braune Haut, die ausnahmsweise mal ganz ohne Unterstützung von Clinique auskommt: nein, der Clou ist der laue Windhauch, der mir in diesem Aufzug den Rücken lüftet.

Alljährlich stelle ich im Sommer neue Rekorde vor dem Kleiderschrank auf: Ziel ist es, in so kurzer Zeit wie möglich so wenig wie nötig anzuziehen und dabei auch noch anständig auszusehen. Nach Jahren des Trainings hat sich ein rückenfreies Outfit dabei als zuverlässigste Option erwiesen. Das umgeknotete Tuch, das übergeworfene Trägerkleid, ein Oberteil mit Rückenausschnitt: tatsächlich gibt es keine einfachere Methode, der Sommerhitze die Stirn zu bieten und obendrein auch noch ganz fesch auszusehen.

Erstaunlicherweise sieht man trotz alledem fast nie Frauen in rückenfreien Kleidern auf der Straße, was wiederum zu der Überlegung einer Leserin passt, die hier neulich kommentierte:
Darf man in Mitteleuropa ein rückenfreies Oberteil ohne Bh anziehen, ohne sich Gedanken über die eigene Einstellung zu Feminismus oder Obszönität zu machen?

© Tommy Ton

Spannende Frage. Dann sind also all jene Frauen, die so bereitwillig auf das Tragen rückenfreier Kleider verzichten, ganz bewusst feministisch gesinnt? Na, ich weiß ja nicht. Vor allem deshalb, weil der Witz des rückenfreien Kleids doch gerade in der damit einhergehenden Gedankenlosigkeit besteht. Ich persönlich habe mir beim fünfzehnsekündigen Überwurf eines rückenfreien Kleidungsstücks jedenfalls noch nie den Kopf über feministische Grundsätze zerbrochen. Viel mehr bin ich beim Speed-Dressing dieser Art mit den Gedanken immer schon längst bei der Überlegung, wo ich schnellstmöglich den ersten Eiscafé des Tages herbekomme. Rückenfreie Kleider sind wie freihändig Fahrradfahren: sommerliche Sorglosigkeit in ihrer charmantesten Form.

Dass das nicht alle Frauen so sehen, kann ich nur bedingt nachvollziehen. Während sich das rückenfreie Outfit den Vorwurf der Schamlosigkeit gefallen lassen muss, sind allerlei andere Obszönitäten umso weiter verbreitet: Denim-Shorts, die durchaus auch als Jeans-Unterhose durchgehen könnten, müffelnde Polyesterblusen, graue Baumwoll-T-Shirts mit geradezu kriminellen Schweißflecken. All das wird toleriert, nur ausgerechnet das rückenfreie Kleid, das im besten Fall die perfekte Balance zwischen Hochgeschlossenheit und subtiler Betörung, selbstbewusster Eleganz und verschmitzter Imaginationskraft verheißt, soll nun obszön sein? Ein Angriff auf den Feminismus?

Tatsächlich gehören rückenfreie Kleider zu den größten Triumphen moderner Damenmode überhaupt. Sie repräsentieren das Gegenteil von solch fiesen Sachen wie Korsett und Mieder, in denen wir wahrscheinlich heute noch um Atem ringen würden, hätte Europa nicht irgendwann mal mit der Gleichberechtigung der Frau angefangen. Und zur BH-oder-nicht-BH-Thematik: die Krönung aller sommerlichen Geschmacklosigkeit sind in meinen Augen gerade jene vorwitzigen Suspender in Farben und Mustern schauderhaftester Ausführungen, die viele Frauen auch nach Auflösung der Spice Girls noch so gern unbedacht unter ihren klebrigen Tanktops hervorblitzen lassen. Oder, noch schlimmer, das vielleicht gruseligste Relikt der 2000er: durchsichtige Plastik-BH-Träger, die Diskretion versprechen wollen, unter dekolletierten Trägertops aber umso plumper aussehen. Da würde ich lieber zum Feigenblatt greifen. Das ist auch rückenfrei und obendrein ein Klassiker.

Headerbild: The Locals

© The Sartorialist
© Tommy Ton
© A Love Is Blind