Dress Unnormal

STATT NORMCORE: DIE SCHÖNSTEN MODEVISIONEN AUS LONDON

Wenn ich morgens aus der Subway steige, komme ich an den Plakaten der neuesten Werbekampagne von GAP vorbei, jenem amerikanischen Kultunternehmen, das seit Jahrzehnten mit Erfolg nicht viel anderes als Kapuzenpullis und graue Unterhosen entwirft. Ach ja, 2007 gab es mal eine Kooperation mit Thakoon. Ansonsten ist GAP ziemlich Mainstream – und auch noch stolz drauf. Die aktuelle Kampagne steht unter dem Slogan „Dress normal“. Semi-illustre Leute wie Zosia Mamet („GIRLS“), Jenna Malone („Stolz und Vorurteil“) und Elizabeth Moss („Mad Men“) posieren in den neusten Pullovern von GAP, die natürlich genauso aussehen wie die Pullover aus dem Vorjahr. Und aus dem Vorvorjahr. Und aus dem Vorvorvorjahr. Das Motto „Dress normal“ ist laut GAP deshalb so toll, weil keine modische Anstrengung erforderlich ist, wenn man sich genauso anzieht wie die letzten Jahrzehnte auch und noch dazu haargenau so aussieht wie 80 Prozent der anderen U-Bahn-Passagiere.

Zuerst fand ich den Gedanken interessant. Normcore, so heißt die Bewegung des modischen Down-Dressing, die Amerika seit diesem Sommer nachhaltig zu faszinieren scheint. Da passt die Idee natürlich, Mainstream als Modetrend zu verkaufen. Kleidsame Normalität in Zeiten knallbunter Céline-Blusen und Statement-Stilettos: geradezu originell! Und doch wird bei näherer Überlegung, vor allem aber nach einem Blick zur gerade abgeschlossenen London Fashion Week deutlich, wie kurzsichtig die „Dress normal“-Kampagne doch gedacht ist. Denn wer die völlig übersättigte Modewelt heute noch am Laufen halten will, der darf ihr ganz bestimmt keine khaki-farbenen Basics anbieten. Menschen brauchen etwas, wonach sie sich sehnen können, sie wollen sich mit der Mode in eine bessere Zukunft träumen. GAP mag die Anlaufstelle jener Leute sein, denen Mode wirklich egal ist – doch gerade dieser Zielgruppe muss man wohl nicht erklären, was „Dress normal“ heißt. Mit diesem Slogan will das Unternehmen GAP endlich wieder hip werden und auch die stilbewussten Leute begeistern. Darauf kann es allerdings lange warten.

In London werden Visionen geboren. Der Blick in die modische Zukunft wird am Central Saint Martins College gelehrt, und diese Zukunft beginnt in greifbarer Nähe: in sechs Monaten. Das muss im Hinterkopf behalten, wer aufregende neue Einfälle verwirklichen und gleichzeitig profitable Kleider entwerfen will. Londoner Mode ist gar nicht so angestrengt verrückt, wie die Legende besagt: nein, London ist erfrischend wie eine kalte Dusche an einem Sommermorgen im August. Während anderswo pappig gewordene Ideen aus vergangenen Jahrzehnten aufgewärmt werden – und das, obwohl Opa Karl doch immer predigt, der Blick in die Vergangenheit sei der Tod der Mode! – wartet Erdem zum Beispiel mit einigen ganz fabelhaften, fantasievollen und dabei doch absolut straßentauglichen Entwürfen auf.

Inspirieren ließ sich der gebürtige Kanadier türkischer Abstammung Erdem Moralioglu in dieser Saison von der Architektur viktorianischer Gewächshäuser. Die feinen Linien der Glas- und Stahlkonstruktion wurden zu feinen Spitzenkleidern gewebt, üppig bewachsen mit grünen und gelben Palmenwedeln. Dazu: schwarze Herrenschuhe. Zum weißen Volantkleid aus drapierter Lochspitze werden dagegen aufwendig geschnürte Römersandalen kombiniert, und zur locker geschnittenen Brokathose, die offenbar eine Reminiszenz an Katherine Hepburn’s Flussexpeditions-Look in The African Queen sein soll, gibt es als Oberteil eine richtige Urwaldexplosion aus tintenblauen Federn und gestickten Dschungelpflanzen. Romantisch ist das nicht, viel mehr eine Art exotisch-luxuriöser Bodenständigkeit, wie wir sie uns in Zeiten der omnipräsenten „modischen Sportswear“ nicht schöner wünschen könnten.

Dreimal hinschauen muss man bei J.W. Anderson, sonst versteht man diese Mode nicht. Sie verkörpert den größten anzunehmenden Gegensatz zu „Dress normal“: ohnehin bekannt für schräge Asymmetrie, Ledereimer als Handtaschen und allerlei andere Kuriositäten, stellt Anderson in dieser Saison seine Auffassung von weiblicher Betörung vor. Weiße und dunkelblaue Minikleider mit übereinander geschichteten Krawattenapplikationen auf der Front, Strickkleidchen mit Farbblockdruck und flatternden breiten Lederstreifen vor der Brust, ein zitronengelbes Spaghettitop überm dunkelblauen Wollpullover und ein jeder Look mit einem großen ledernen Schlapphut garniert – das mag im ersten Moment nach modischem Kauderwelsch aussehen. Im zweiten Moment verliebt man sich in den herrlichen khakifarbenen Kurzmantel mit einem Revers so ausladend wie Elefantenohren. Und im dritten Moment denkt man dann: dieser Schlapphut, ja wieso eigentlich nicht? Intellektueller Galeristen-Chic mal verführerisch und ironisch zugleich aufbereitet, das soll mal einer schaffen. J.W. Anderson ist auf „Dress Unnormal“ spezialisiert, vermeintlich Komisches tragbar zu machen ist sein Fachgebiet. Diese Kollektion ist ein neuer Höhepunkt in seinem Portfolio.>>
Dass ein und dieselbe Handschrift, und wenn sie noch so schön geschrieben ist, auf Dauer uninteressant wird, weiß auch Mary Katrantzou: bekannt wurde sie mit ihren eklektischen Digitalprints. Aber immer nur Kleider bedrucken wäre ja öde – Katrantzous neustes Fachgebiet scheint nun die Stickerei zu sein. Camisoles, Miniröcke und kurze Plissee-Kleidchen mit feinen Trägern wurden allesamt mit abstrakten Kringeln und Zweigen besetzt, die gehäkelten Säume verlaufen unregelmäßig und gezackt, wie der Blätterbewuchs an einer Hauswand. Pudrige Blautöne wechseln mit feurigem Korallrot, Hellgelb und Schwarz. Die Silhouetten sind einfach, aber mit raffinierten Details versehen: Bustiertops sind auf der Rückseite offen, Röcke seitlich geschlitzt und die verspielten Spitzenkleider werden mit weißen Hemdkragen erwachsen. Mary Katrantzou gelingt ein seltenes Kunstwerk: sie lässt mondäne Festlichkeit mit vermeintlich simplen Formen verschmelzen – fantasievoller Luxus wird plötzlich lässig, um nicht zu sagen cool.
Cool kann auch Christopher Kane, er ist der Meister der modischen Rüstung, die Frauen feminin und unbesiegbar zugleich aussehen lässt. Ein einfaches bordeauxfarbenes Cocktailkleid ist mit einem tiefen V-Auschnitt versehen. Das scheint betörend und ist dabei doch hochgeschlossen streng: denn über dem Dekolleté ist ein transparenter, mit sternförmig verlaufenden Linien besetzter Netzstoff gespannt, der oben in einem kleinen Rollkragen endet. Und auch Kane kann sticken, allerdings eher auf rustikale Art: rote, weiße und blaue Fäden winden sich in komplizierten Seemannsknoten über Tops und Kleider. Besonders fein sind die raffinierten Tülleinsätze an diversen Cocktailkleidern in Babyblau, Creme und Schwarz: aus eistütenförmigen Ausbuchtungen an Säumen und Ausschnitten quillt der Netzstoff hier in üppigen Schichten. Christopher Kanes Mode ist schwer zu beschreiben, man muss sie sehen und anfassen, erst dann versteht man  das Überraschende und Unnormale, dass diese und die Mode generell jede Saison in eine aufregende Zukunft trägt. Christopher Kane setzt spannende neue Maßstäbe, und genau das ist es, was diese Branche braucht. Nicht noch mehr Normcore.
Header: Erdem Sommer 2015. Alle Bilder via style.com