Die guckt aber komisch

JETZT EN VOGUE: DAS FRATZENGESICHT

„Guck doch nicht so blöd“, sagt meine Mutter immer, wenn wir ein Familienfoto machen. Ich schneide für solche Bilder gerne absichtlich Grimassen, einfach, weil es Spaß macht, ein freundliches Lächeln langweilig wäre und ja hinterher auch jeder erkennen soll, wer von uns vier Gestalten das jüngste und entsprechend unreifste Familienmitglied ist. Ich habe ein ganzes Repertoire an schauderhaften Fratzen im Angebot, die ich dank intensiven Trainings jederzeit aus dem Stand performen kann. Manchmal, wenn ich abends spät nach Hause komme und zu faul bin, ins Bett zu gehen, stelle ich mich eine Weile vor den Badezimmerspiegel, zupfe Barthaare, unterhalte mich mit meinen Augenbrauen und schneide die schönsten Grimassen seit Pumuckl. Das ist mein persönliches GSV, Geheimes Single Verhalten, aufgeschnappt bei „Sex and the City“. Carrie liest dabei gerne im Stehen Modemagazine und snackt simultan Cracker mit Traubengelee. Ich übe ungestört verstörende Gesichtsausdrücke. Jetzt ist es raus.

Dank einer neuen Werbeanzeige, die mir neulich an einer Bushaltestelle auf der Sixth Avenue begegnete, habe ich nun allerdings festgestellt, dass das Fratzengesicht im Jahr 2014 offenbar aus seinem verstörten Nischendasein befreit wurde. Für die neueste Six-Icons-Kampagne von Louis Vuitton wurde Saskia de Brauw engagiert, die ausschließlich mit Boxhandschuhen und Schlüpfer bekleidet eine wirklich schaurige Grimasse schneidet, inklusive schief angezogenem Mundwinkel und schläfrigem Augenaufschlag. Das niederländische Model sieht auf diesem Bild aus wie ein Halbwüchsiger, der gleich was anstellt. Für ein Beermann’sches Familienfoto wäre die gute Saskia damit nicht zu gebrauchen, für die Werbekampagne eines Luxusmodehauses ist sie es anscheinend sehr wohl. Wir sehen: auch Gesten und Mimiken können trendy sein. In den 60ern schauten die Models heiter wie ein Strauß Sonnenblumen, in den 90ern sahen sie aus wie verschwitzte Nachtclubleichen, seit einigen Saisons scheint das heiße Leiden besonders en vogue zu sein, und jetzt also die Grimasse.

Zu dieser fabelhaften Modeerscheinung fallen mir natürlich auf der Stelle lauter dringend zu klärende Fragen ein. Zum Beispiel:

Ist der Fratzentrend vom Selfie inspiriert? Seit geraumer Zeit sind im globalen Mobilfunknetz körnige Selbstporträts im Umlauf, die gelangweilte Leute ihren Freunden per Kurznachricht zusenden. Meine Freundin L. (die mit dem schönen Auto) ist Meisterin im Verschicken herrlicher Fratzen-Selfies. „Wie geht’s Dir?“, schreibe ich an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen und bekomme als Antwort ein Bild aus dem Badezimmer geschickt, auf dem L. andeutungsweise in den Duschkopf beißt. „Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“ schreibt sie dazu.

Ich habe eine ganze Sammlung solcher Grimassen-Porträts von L. in meinem Foto-Archiv, die ich aus datenschutzrechtlichen Gründen hier bloß leider nicht veröffentlichen darf. Was die Selfie-Kultur allgemein versinnbildlicht, haben die Gesellschaftsseiten der Tageszeitungen jedoch ohnehin längst eingehend untersucht: nämlich, dass heute jeder zum Porträtfotografen werden kann, und Schnappschüsse von sich und anderen dadurch unterschiedlichste Formen annehmen können. Es geht nicht mehr darum, allen mitzuteilen, wie schön meine Freunde und ich sind. Es geht darum, alle wissen zu lassen, wie viel Spaß wir gerade haben. Und wie ließe sich das besser ausdrücken als mit einer drolligen Grimasse? Schaut her, wie lustig wir sind! Wann immer ich eine Gruppe von Leuten in einem Club ein Massen-Selfie schießen sehe, setzen mindestens 3 von 4 Menschen zu diesem Anlass ein absichtlich dämliches Gesicht auf. Das kann doch kein Zufall sein.

Von dieser Bewegung muss auch die Modewelt Wind bekommen haben. Überhaupt gilt ja heute alles als supertrendy, was man in den 50er Jahren noch als total unsittlich eingestuft hätte: Fetzenjeans, Badelatschen, Oversize-Sweatshirts, Jogginghosen zum Smoking-Blazer. Oder eben Frauen mit schiefen Gesichtsausdrücken. Das wiederum führt uns zu einer weiteren essentiellen Frage:

Ist der Fratzentrend ein weiterer Beweis für die These, in der heutigen Modewelt sei alles erlaubt? Antwort: negativ. Denn wenn das erlaubt ist, was vorher nicht erlaubt war, ist entsprechend genau das nicht mehr erlaubt, was vorher erlaubt war. In Zeiten heiß gelaufener Feminismusdebatten ist das mädchenhafte Sonnenscheinlächeln vom Aussterben bedroht. Zu aufreizend! Moderne Frauen sind Persönlichkeiten mit klaren Ansichten. Dazu zählt auch, dass man als Frau jederzeit selbst entscheiden dürfen muss, wann man einen einladenden Gesichtsausdruck aufsetzen möchte und wann man lieber so schauen will, als habe man soeben in eine verfaulte Zitrone gebissen.

Stacy Martin auf dem Cover der deutschen Harper’s Bazaar 02/2014

Welch groteske Formen die modische Grimasse annehmen kann, sehen wir aktuell auch im LOVE Magazine, ohnehin nicht gerade für eine konventionelle Bildsprache bekannt: in der Fotostrecke „Bass“, geschossen von Phil Poynter, sehen die Models so aus, als wären sie aus Versehen in einer rotierenden Flugzeugturbine hängen geblieben. Aufgerissene Münder, verzerrte Lippen, eingedellte Wangen. Anna Ewers scheint sich gleich einer professionellen Zahnreinigung unterziehen zu müssen, so weit hat sie den Schlund geöffnet.

„Die guckt aber blöd“, würde meine Mutter, ihrerseits übrigens auch eine meisterhafte Grimassenschneiderin, zu diesen Bildern sagen. Obendrauf noch die verschwitzten Haarsträhnen an der Stirn, ein weiteres Symptom der Feminismus-Bewegung. Frauen sollen heute schließlich auch selbst entscheiden dürfen, wann sie sich die Haare waschen. Und wenn es nur einmal im Monat ist und ergo alle halbwegs reinlichen Männer vor ihnen reißaus nehmen: Hauptsache, es wird provoziert!

Ob das auch das Ziel von Louis Vuittons omnipräsenter Werbeanzeige sein soll? Wie viel Gesellschaftspolitik steckt in der modischen Grimasse? Ist Saskia de Brauw die neue Botschafterin des Lebensstils selbstbestimmter Frauen, die nicht mehr für die Männerwelt, sondern nur noch zu ihrem eigenen Vergnügen ein charmantes Lächeln aufsetzen? Das Foto hat ja übrigens Karl Lagerfeld gemacht, der gerade erst selbst seine Modenschau für Chanel als Feministinnen-Marsch inszenierte. Mit „Ladies first“- und „History is her story“-Parolen jagten die Models wie eine keifende Meute wildgewordener Hausfrauen den Laufsteg hinab. Hier haftete der ach-so-politischen Darbietung allerdings der schale Beigeschmack der Effekthascherei an – nach dem Motto: wir sagen Ja zum Feminismus, weil Feminismus gerade schick ist. Dass Chanel mit dieser Show aktiv etwas für die Rechte der Frauen in Saudi-Arabien bewirkt hat, bleibt schließlich fraglich.

Dagegen wirkt die modische Fratze ungleich subtiler. Solch ein Grimassengesicht verleiht einer Modestrecke auf der Stelle eine gute Portion Natürlichkeit. Ganz so, als wollten die Models der Welt mitteilen, wie viel Spaß sie gerade dabei haben, sich richtig schön daneben zu benehmen. Modestrecken wirken weit weniger künstlich, wenn die abgebildete Frau nicht wie festgefroren in die Kamera strahlt, sondern mal so richtig blöd guckt, als wäre sie gerade ganz schwer mit ihrem GSV beschäftigt. Und selbst wenn grimassenschneidende Models den Erdball auch nicht frauenfreundlicher machen werden, so wird immerhin die Modewelt dadurch um einiges lustiger. Politik sollte man sowieso besser anderen Branchen überlassen.

„Bass“ Editorial aus dem aktuellen LOVE Magazine, fotografiert von Phil Poynter