Neulich habe ich mir ein Oberteil gekauft, in dem ich aussehe wie eine Figur aus der Sesamstraße. Es ist blau, aus Jeansstoff, gefranst, asymmetrisch geschnitten, hat ein Vermögen gekostet und setzt alle Regeln des guten Geschmacks außer Gefecht. Ich musste es haben, es war so schön anders. Mal was Neues. Nach diesem Motto versuche ich immer wieder meine irrationalen Einkäufe zu rechtfertigen. Viel Geld für etwas total Ausgefallenes auszugeben ist meiner These nach nichts weiter als schlaues Investment in eine brillante Innovation, kurz bevor sich die Massen darauf stürzen.
Dieses Dilemma beschäftigt mich immer wieder: welche Investition hat mehr Wert? Die Innovation oder der Klassiker? Das Verrückte oder das Traditionelle? Klassisch – was heißt das überhaupt? Im New Yorker MoMa hängen im 5. Stock Gemälde von Willem de Kooning, der abstrakte Pinselstriche mit gefletschten Zähnen gemalt und das Ganze dann mit so scheinheiligen Titeln wie Woman versehen hat. Diese Bilder bezeichnen wir heute als Klassiker – nicht klassisch im Sinne einer antiken Zeus-Statue, aber klassisch, weil sie verschiedene Stilphasen überdauert und mit den Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. So wie die Pelzjacke meiner Großmutter, die sie sich in den 70er Jahren maßschneidern ließ und die ich neulich mal überwerfen durfte. Wird meine Enkelin irgendwann wohl auch mein gefranstes Jeans-Oberteil anprobieren?
Wieso werden manche Dinge – Gemälde von de Kooning, Pelzjacken, schwarze Blazer, Nutella, Zahnpasta von Elmex, Rennwagen von Porsche, Plattenspieler, Yves-Saint-Laurent-Trenchcoats, Bonnie & Clyde – zu Klassikern und andere nicht? Wieso hören wir nach Jahrhunderten noch Bachs Weihnachtsoratorium, während man die am Fließband produzierten Songs der meisten Musiker der Neuzeit nach wenigen Wochen in den Charts nicht mehr ertragen kann? Wieso würde ich jeder neumodernen Astronautenkost eine klassische Platte steak frites vorziehen?
In der Mode heißt es immer, es müsse vorangehen, bloß keine Nostalgie, stattdessen seien provokative Fortschrittlichkeit und Innovation der Schlüssel zur Erhaltung dieser Industrie. Doch auch und gerade hier ist weniger neu manchmal mehr – wobei Bianca Jaggers Hochzeitsoutfit, siehe oben, 1971 ja auch als vollkommener Irrsinn aufgefasst wurde und trotzdem, oder viel mehr gerade deswegen, heute als Inbegriff des modischen Klassikers gefeiert wird. So viel ist nämlich sicher: Klassiker sind keine Massenprodukte. Jaggers weißer Hosenanzug war nie ein populärer Trend, der wie Ugg Boots, Skinny Jeans oder Woolrich-Parka unsere Fußgängerzonen verseucht hat. Darin liegt ja auch der widersprüchliche Zauber des Phänomens Klassiker: dass er niemals „modisch“ ist und gleichzeitig nie aus der Mode kommt.
Wie neu die Mode eigentlich noch werden kann, haben wir neulich bereits hier eruiert; doch diese Frage lässt sich ebenso gut auf sämtliche andere Branchen übertragen: zu wie viel NEU ist die kreative Welt überhaupt noch fähig? Gerade ist das „neue“ iPhone 6 erschienen. Die Werksbezeichnung ist neu, ansonsten hat sich an dem schicken Telefon nicht viel geändert. Die abgerundete Silhouette erinnert sogar irgendwie wieder an das Ur-Modell iPhone 1. Ist das erste iPhone damit schon ein Klassiker? Weil es von der Folgegeneration bereits zitiert wird? Und wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen klassisch und normcore? Sind Nutella, Elmex Zahnpasta, steak frites und schwarzer Blazer neben ihrer Tätigkeit als Klassiker nicht auch irgendwie total normal? Und: woran erkennt man einen zukünftigen Klassiker? Gibt es vielleicht Indizien, dank derer ich als findige Käuferin vorausschauen kann, ob auch mein Sesamstraßenkostüm/Jeans-Fransen-Top irgendwann mal als Klassiker in die Annalen der Modegeschichte eingehen wird?
Lange Rede, kurzer Sinn: ich will herausfinden, was manche Dinge zeitloser, ikonischer, klassischer macht als andere. Dafür gibt es hier ab sofort die neue C’EST CLAIRETTE Klassikerkolumne als praktisches Forschungsgebiet zum Thema. Wir fangen an mit einem vergleichsweise einfachen Untersuchungsobjekt:
Das führt uns zu der Feststellung, dass etwas so Banales wie die Skinny-Jeans beispielsweise niemals an das Niveau der Schlaghose herankommen wird – die ist nämlich zwar nicht grell, dafür aber wiederum viel zu basic, als das man sie als Klassiker bezeichnen könnte. Schlaghosen sind wie diese rätselhaften Party-Girls, die immer zu spät kommen und abhauen wann sie wollen und einer Fete in jedem Fall die letzte fehlende Prise rauschenden Glamours verpassen.
Meine erste Schlaghose habe ich mir mit 16 von meinem hart verdienten Babysitter-Lohn gekauft – zu einer Zeit, als Skinny-Jeans gerade ihre Blütezeit erlebten. Ich weiß nicht mehr, was mich trotzdem dazu veranlasste, ausgerechnet eine Schlaghose zu kaufen. Vielleicht roch ich damals schon, dass aus dem Stück eines Tages ein Klassiker in meinem Kleiderschrank werden würde. Das Modell ist von Diesel, kornblumenblau und sitzt wie ein Eins, übrigens ein weiterer Bonus der Schlaghose: einerseits ist sie, da idealerweise knackig und hüfttief geschnitten, nicht gerade unerotisch. Andererseits verleiht einem der lustig um die Knöchel schlackernde Stoff einen Hauch Avantgarde, was wiederum normalerweise eher nicht mit Verführung assoziiert wird. Das ausgestellte Hosenbein weicht von der natürlichen Form des Körpers ab, die Trägerin wirkt dadurch automatisch ein klein wenig übermenschlich. Wie ein Superman-Cape stülpt sich der Stoff über die Fußknöchel. Wir lernen also: Klassiker sind alles andere als konservativ – viel mehr zeichnen sie sich durch eine würzige Dosis Extravaganz aus.
Außerdem ist die hohe Qualität des Produkts essentiell. Klassiker sind das Gegenteil von Standard. Auch Schlaghosen überzeugen nur, wenn sie richtig gut und schmeichelhaft geschnitten sind. Nichts ist schlimmer als eine Schlaghose mit hängenden Kniekehlen. Das habe ich selbst auch feststellen dürfen, als ich mein Diesel-Modell nach dem Kauf zuhause anprobierte: mit 16 sah ich nämlich aus wie eine schiefe Bohnenstange. Da konnte die Hose noch so hochwertig sein, ich wirkte darin trotzdem wie ein ausgemergeltes Heroin-Opfer. Aber das gute Stück hat sich, weil ja ein Klassiker, tapfer gehalten. Heute passe ich perfekt hinein. Wenn ich in dieser Schlaghose unterwegs bin, fühle ich mich ganz transformiert, gerade so, als wäre ich für einen Tag eine Fledermaus. Auch das muss ein Charakterzug des Klassikers sein: er transportiert ein bestimmtes Lebensgefühl, egal ob als flatternder Stoff an den Beinen oder Nuss-Nougat-Aufstrich beim Sonntagsfrühstück. Und seit wann kommen Lebensgefühle aus der Mode?
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Charlotte Gainsbourg in einer Schlaghose von Louis Vuitton. Bild: Tommy Ton |
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Schlaghose von Bouchra Jarrar, S/S 2015 |
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Lykke Li in einer Schlaghose von &Other Stories |
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Schlaghose von Coperni Femme |
PS: Für den Mann konnte sich die Schlaghose als Klassiker übrigens nicht durchsetzen. Ich kann mir gar nicht erklären, wieso.