Spitzenmädchen

GARANTIERT OHNE GARDINEN-FLAIR: DIE NEUEN SPITZENKLEIDER

Investigativjournalismus vorm Kleiderschrank: wie viele Spitzenkleider besitze ich? Antwort: gar keins. Das muss einen Grund haben. Die Frage nach dem Spitzenanteil an meiner Garderobe mag trivial klingen, und sicherlich gibt es wichtigere Rätsel, mit denen man sich beschäftigen könnte, aber heute wollen wir uns mit dem Spitzenkleid befassen. Schließlich leben wir in Zeiten ausschweifender Feminismus-Debatten, und da kommt dieses besondere Material als Forschungsobjekt gerade gelegen. Wenn man genau hinsieht, und das wird der/die aufmerksame Leser/in nach diesem Artikel hoffentlich tun, dann wird deutlich, wie viel gender-politischer Diskussionsstoff im Spitzenkleid steckt.

Ich habe das neulich in der Politik-Vorlesung hier in New York festgestellt. Neben mir nahm ein Mädchen mit langen Beinen und hellem Lockenschopf Platz. Sie sah aus wie die Reinkarnation von „Natürlich blond“ – von Kopf bis Fuß in Bonbonrosa gekleidet, die Handyhülle rosa, das iPad rosa, der Lippenstift rosa, der Shell-Lack auf den Fingernägeln rosa, und auch das kurze Kleid aus feiner Tüllspitze, das sie trug, war, erraten, rosa. Ich kam mir vor, als säße ich neben einem gigantischen Kaugummi. Abgesehen davon, dass Geschmäcker verschieden sind, frage ich mich: ist so ein Outfit noch zeitgemäß? Rosa von Kopf bis Fuß mag ja noch als ironisch durchgehen. Aber rosa Spitze?

Spitzenkleider sind komisch. Sie verkörpern zwei im Grunde komplett konträre Frauenbilder, wobei eines schlimmer ist als das andere: auf der einen Seite die frivole Erscheinung aus dem Rotlichtmilieu (Federboa, Lackstiefel und Netzstrümpfe kennen wir aus der gleichen Kategorie), auf der anderen Seite das treuherzige Unschuldslamm in weißer Lochspitze, mit Spitzentaschentuch und Orangenwasser hinterm Ohr. Meine erste und letzte Begegnung mit Spitze hatte ich selbst im Alter von sechs Monaten, als meine Eltern mir zur Taufe ein weißes Gewand aus besagtem Material überzogen. Ah, die Kirche! Die ist überhaupt der beste Beweis! Steckt Kleinkinder und Bräute gleichermaßen in den perforierten Stoff.

Ursprünglich wurden die ersten Nadelspitzen ja auch im streng katholischen Italien erfunden. In Venedig und Mailand entwickelte sich die teure Handarbeit im 17. Jahrhundert schnell zu einem lukrativen Wirtschaftszweig. Spitze trugen wohlhabende Männer und Frauen gleichermaßen, zum Beispiel an Ärmelmanschetten oder ausladenden Rüschenkragen. Daher kommt wohl die heutige Auffassung, Spitze habe irgendwie etwas Schwülstiges, Überladenes an sich – kleideten sich unsere Vorfahren aus dem Barock noch wie Vorhanggarnituren, wurden wir im 20. Jahrhundert dank Coco Chanel endlich von jener Schnörkelmode befreit. Vielleicht wurzelt darin auch der Eindruck, dass gerade so etwas gruseliges wie rosa Tüllspitze heute irgendwie nicht mehr zeitgemäß wirkt – darin sieht Frau nämlich schnell aus wie ein Teil der Wohnzimmerdekoration, nicht wie eine souveräne Persönlichkeit. Feminismus lässt grüßen. Ich weiß schon, warum ich selbst kein einziges Kleidungsstück aus Spitze im Schrank hängen habe.

Kaviar Gauche Sommer 2015. Bild: Cathleen Wolf
Und doch lohnt sich nun selbst in jenen Zeiten, in denen wir weder wie ein leichtes Mädchen von der Reeperbahn noch wie eine katholische Nonne noch wie eine Fenstergardine aussehen wollen, ein Blick auf das Phänomen Spitzenkleid: denn in der anstehenden Saison wird man sich vor dem gelochten Stoff  kaum retten können. Dabei ist positiv zu bemerken, dass das Spitzenkleid der Gegenwart mit den damit verbundenen Codes vergangener Jahrzehnte nicht mehr viel gemein hat. Kollektiv haben die Modeschöpfer von Chloé bis Kaviar Gauche entschieden, dass der gelochte Stoff kräftig entstaubt durchaus als Outfit für moderne Frauen taugt. Exemplarisch lässt sich das auch anhand der neuen Sommerkollektion von Tibi belegen: das New Yorker Label ist nun wirklich nicht für feminine Betörung bekannt, eher für einen leichtfüßig charmanten Purismus, oft garniert mit ziemlich unerotischen (herrlichen!) Hutkreationen, flachen Schuhen, weiten Hosen und breiten Blazern. Demnächst im Sortiment: ein weißes Hemd aus geblümter Klöppelspitze auf Netzuntergrund, kombiniert zu luftigen schwarzen Culottes und weißen Plateausandalen.

Auch Erdem hat ein fabelhaftes weißes Midikleid aus perforiertem Zwirn im Angebot, mit raffiniert drapiertem Faltenwurf am Rock und seitlichen Schlitzen an der Brustpartie. Jeglicher Anflug von Sinnlichkeit wird hier dank schwarzer Römersandalen gekonnt gebrochen; ähnlich wie bei Kenzo, wo gezackte Lochspitze unter asymmetrischen Kleidern mit sportlichem Schwimmerrücken hervorlugt. Auch bei Chloé sehen wir eine ganz und gar nicht verruchte Spitzenvariation aus aufwendiger Häkelarbeit, hier ebenfalls mit rustikal geschnürten Sommersandalen kombiniert. Isabel Marant erfindet die erste Boyfriend-Hose mit geometrischer Perforierung, und dann wäre da noch Nicolas Ghesquière, der für Louis Vuitton ein streng hochgeschlossenes Kleid mit Loch- und Zackenmuster entworfen hat.

So also sehen die Spitzenmädchen der Gegenwart aus. Spitze lässt uns plötzlich ganz unerwartet lässig, unbeschwert, selbstbewusst und in Kombination mit den richtigen Accessoires (Herrenschuhen, weiten Hosen) und Farben (siehe Kaviar Gauche) geradezu knabenhaft cool erscheinen. All das natürlich weiterhin inklusive jenem grazil-femininen Charme, ohne den einfach kein gelochtes Sommerkleid auskommt. Damit macht die Mode vor, was schnellstmöglich auch in anderen Bereichen gelten sollte: dass Frauen von heute nicht mehr zwischen betörend und sportlich, zwischen hilflos und souverän, zwischen Kindchenschema und Businessfrau wählen müssen. Sondern, dass sie alles haben können.

Header:Tibi S/S 2015. Laufstegbilder via Style.com

Chloé Sommer 2015
Erdem Sommer 2015
Erdem Sommer 2015
Erdem Sommer 2015
Kaviar Gauche Sommer 2015
Kaviar Gauche Sommer 2015
Gucci Sommer 2015
Isabel Marant Sommer 2015
Kenzo Sommer 2015
Kenzo Sommer 2015
Kenzo Sommer 2015
Louis Vuitton Sommer 2015