Neulich ist meine Jeans gerissen. Eine wirklich schöne antike Levi’s 501, die ich vor eineinhalb Jahren für 18 Euro in einem Berliner Second-Hand-Shop einsackte und seitdem ungefähr alle zwei Tage (manchmal auch eine Woche durchgehend) trug. Irgendwann musste es passieren: ich war tanzen in einem Club in Williamsburg, und die Musik war wirklich toll, und weil ich die Angewohnheit habe, mich beim Tanzen zu toller Musik eigenartig zu verrenken, riss die ohnehin überstrapazierte Hose bei einem besonders extravaganten dance move an der linken Pobacke ein.
Drama! Kein Kleidungsstück habe ich in so kurzer Zeit häufiger getragen als diese Jeans. Am nächsten Morgen ging ich nach Tribeca und kaufte eine neue Levi’s 501, die fast genauso aussieht wie das Vorgängermodell, nur mit weniger durchsichtigem Hosenboden. Und da kam mir so plötzlich, mitten drin im schönsten Modemonat September, die revolutionäre Erkenntnis, dass Kleidung doch tatsächlich ein Gebrauchsgegenstand ist. Etwas, das sich abnutzt. Und dann ersetzt werden muss. Mode ist keine Kunst, Mode ist das, was den Stoff, den wir uns aus praktischen und sittlichen Gründen überwerfen, nebenbei auch noch ästhetisch ansprechend macht.
Heute geht in Paris die Modewoche zu Ende, der Modemonat ist vorbei, endlich keine wackeligen Laufstegvideos und Cara-Delevingne-Schnappschüsse im Instagram-Feed mehr. Wir blicken zurück auf einen Monat origineller und weniger origineller Vorschläge der Designer für die Sommergarderobe des nächsten Jahres. In den letzten Tagen wurde hier viel diskutiert über die vermeintliche Stagnation der Modebranche, LeserInnen beklagten das immergleiche Einerlei der Laufstegkreationen. Man habe das alles ja schon zigfach gesehen, unerträglich! Mit vielen Ausrufezeichen wurden die Kollektionen großartiger junger Designer als „fürchterlich“ und „lahm“ bezeichnet, eine Leserin wetterte, nur „ohne Hintergrundwissen“ könne man sich für derartige Enttäuschungen begeistern, hinter denen bloß „leere Versprechen und falsche Werbung“ steckten. Ich rätsle bis heute, welches falsche Versprechen sich wohl hinter J.W. Andersons ledernen Schlapphüten verbergen soll. Einige Kommentare klangen so empört, als wollten die Verfasserinnen die Modewelt am liebsten gleich komplett abschaffen. Aber ist Rebellion wirklich die beste Lösung?
Natürlich ist die Beobachtung, dass sich die Modebranche immer wieder am eigenen Archiv bedient, vergangene Epochen aufwärmt und dadurch oftmals den Blick für die Zukunft verliert, durchaus richtig. Trotzdem frage ich mich: wie neu kann die Mode überhaupt noch werden? Und wenn sie es wird, so richtig neu und aufregend und avantgardistisch – wer will sie dann noch anziehen?
Ich wüsste ja zu gern, was jene strengen Kommentatorinnen wohl daheim vor dem Laptop anhaben, während sie so emsig über die fantasielose Modewelt schimpfend in die Tasten hacken. Vielleicht einen Overall aus Seifenschaum? Ich mache mal einen Anfang und verrate, was ich gerade trage: meine neue alte Levi’s 501, natürlich. Die ist so toll und gleichzeitig sowas von unoriginell, zwar eben ein Klassiker, aber wirklich keine große Neuigkeit. Und dabei müssten doch gerade Leute wie du und ich, also Modeblogleser und -autoren und damit potenzielle Kundschaft von Alexander McQueen bis Valentino, mit gutem Beispiel vorangehen und uns ganz innovativ und wagemutig kleiden! Wir beschweren uns, dass Balenciagas Kollektion in dieser Saison so schrecklich kommerziell aussieht; dabei ist fraglich, ob wir tatsächlich ein Kleid aus perlenbestickten Fischernetzen kaufen würden.
Mode wird für Menschen gemacht, nicht fürs Museum. Permanente Revolution und Neugeburt aus der Asche ist die Aufgabe der Kunst, nicht der Mode, die immer noch auch Bekleidungsbranche ist. Kleider und Hosen und Handtaschen gibt es seit Jahrtausenden, man kann sie nicht alle drei Monate neu erfinden, ebenso wie Architekten auch nicht plötzlich ein Haus mit 89 Schornsteinen und ohne Tür bauen, nur weil das vorher noch keiner gemacht hat. In Häusern wollen wir wohnen, in Kleidern angezogen sein.
Das soll nicht heißen, dass Kleidung nicht den Anspruch haben sollte, spannend und ungewöhnlich zu sein. Im Gegenteil: die neuen Entwürfe und Interpretationen unterschiedlichster Stile sind für diese Industrie lebensnotwendig, sonst schafft sie sich aus lauter Überfluss selbst ab. Kleidung ist Gebrauchsgegenstand, Stil ist Luxus. Die ideale Kombination beider Komponenten ist eine ästhetische, dem Zeitgeist entsprechende Gestaltung von Stoffen und Silhouetten. Aber wer bestimmt denn wohl, wie dieser Zeitgeist auszusehen hat?
Hier! Wir! Die Konsumenten, die wir bloß leider den ganzen Tag in bequemen Jeans und Sneakern herumlaufen. Wenn wir uns nicht originell anziehen, dürfen wir uns auch nicht wundern, dass es auf den Laufstegen fast nur Tragbares und (vermeintlich) Bekanntes zu sehen gibt. Jean Paul Gaultier hat immer so gut wie unabhängig von populären Trends entworfen – jetzt verabschiedet er sich aus der Prêt-à-Porter, um nur noch für eine ausgewählte Klientel zu schneidern. Seine Kleider waren aufregend, fantasievoll, provokant, manchmal auch herrlich schauderhaft; dem Volksgeschmack haben sie wohl zu selten entsprochen. Nun gibt’s von Gaultier nur noch Haute Couture.
Auch Christian Lacroix konnte in der vom Konsumenten dominierten Modewelt von heute nicht überleben: seine Kleider waren zwar überirdisch schön und opulent, aber sie entsprachen nicht dem Zeitgeist, waren nicht modern, trafen nicht den Geschmack einer Generation, die sich gerade vor allem nach flachen Schuhen, maskulinen Schnitten und minimalistischen Silhouetten sehnt. Phoebe Philo wiederum hat es geschafft, mit ihren Kollektionen für Céline ein Millionen-Publikum zu begeistern – aktuell zum Beispiel mit knöchellangen Schichtkleidern aus Stoffen mit Großmutters Blumentapetendruck, gestrickten Fransenroben und praktischen Lederhandtaschen mit integriertem Armreif. Die Blumentapete ist nicht neu, sondern ausgegraben aus den 60er Jahren. Fransenkleider gab es auch schon vor 30 Jahren. Und doch sehen wir eine Kollektion, die Frauen mit größtem Vergnügen tragen werden wollen: eben weil man darin angezogen ist, U-Bahn fahren kann, ohne für einen landstreichenden Clown gehalten zu werden, und dabei doch elegant und auf unaufgeregte Weise originell aussieht.
Ihr wollt mehr Innovation? Gerne doch! sagen die Modeschöpfer – aber zieht ihr die dann auch auch an? Auf den Straßen von New York bis Berlin und Dallas bis Düsseldorf, wo in Zeiten von Style.com und H&M-Designer-Kooperationen sicherlich mehr als genug Menschen mit Modebewusstsein herumlaufen, kann man nach Leuten in aufregenden Kleidern jedenfalls lange suchen. Die einzigen, die modisch wirklich mal was Neues wagen, sind am Ende wohl die Gäste der Modenschauen – aber auch für die gibt es keine Gnade, denn sie sind ja alle gekauft! gesponsert! eingekleidet!, und überhaupt, wie konnten sie es wagen, sich zum Besuch einer Modenschau fein zu machen, diese schillernden bunten Kleider hervorzuholen und darin auch noch für die Fotografen zu posieren! Unverschämt, wirklich.
Einerseits beschweren wir uns über Leute, die sich in Paris wie eine Herde Zirkustiere anziehen und dafür auch noch von Tommy Ton abgelichtet werden. Andererseits wird bedauert, dass die Mode nicht alle drei Monate komplett neu erfunden wird, dass sich die Designer immer nur auf bereits Dagewesenes beziehen – die 60er, 70er, 80er, 90er, Hippies, Punks, Mods, Popper – und dass sich das Modekarusell am Ende doch bloß im Kreis dreht. Aber vielleicht ist die Re-Interpretation und Neu-Kombination antiker und moderner Stile der einzige Kompromiss für das modische Dilemma zwischen ästhetischer Innovation und praktikabler Kleidsamkeit.
So wie es der allseits gefeierte Nicolas Ghesquière bei Louis Vuitton übrigens auch nicht anders macht. Seine Sommerkollektion basiert streng genommen primär auf Silhouetten aus den 60er Jahren, hohe Stiefel zu Miniröcken sind auch nichts Neues, aber bei Louis Vuitton kommen sie eben aus Samt oder Denim daher. Der Clou liegt in den feinen Details, den kreuzförmigen Absätzen der Schuhe, den Lippenstift- und Wimpernzangen-Prints auf kurzen Kleidern, den silbernen Lederlaschen entlang der Knopfleisten, dem perforierten Feinstrick, den hellen Nähten auf dunkelblauen Jeans.
Provokation um der Provokation willen ist für die Mode schließlich auch keine Lösung. Vor allem dann, wenn er bloß aus dem krampfhaften Versuch heraus entsteht, um jeden Preis etwas ganz Neues und Verrücktes entwerfen zu wollen. Modemarken sind Unternehmen, die Gewinn machen und entsprechend auch eine Identität formen müssen, die sich nicht jede Saison mit etwas komplett und überraschend Anderem kreuzen lässt. Wir brauchen Designer, die die Mode voran bringen mit frischen Ideen und Einfällen, die nicht ausschließlich auf Zitaten anderer basieren. Was wir aber auch brauchen, sind Kleider zum Anziehen. Kleider sind Gebrauchsgegenstände, sie nutzen sich ab und wollen ersetzt werden. Vielleicht werde ich im nächsten Sommer ein neues Strandoutfit brauchen. Dann gehe ich zu Acne und kaufe mir zum Beispiel das schöne petrolblaue Modell aus Frottee, das wie ein umgeknotetes Handtuch aussieht. Nicht originell genug? Haben wir schon im Badezimmer gesehen? Tut mir leid, von mir ist leider auch nicht mehr zu erwarten. Wie gesagt: ich trage jeden zweiten Tag Levi’s-Jeans.