Dein Oberteil ist kaputt

DESTRUKTION IST DIE NEUE PERFEKTION

„Dein Oberteil ist kaputt“ hat neulich ein Freund mein bereits erwähntes Fransen-Jeanstop kommentiert. Das ist das mit Abstand beste Kompliment, das ich zu jenem Stück bisher erhalten habe. Einige Leute fanden es „irgendwie komisch“, konnten den Ursprung der Komik jedoch nicht begreifen. Das Oberteil als kaputt zu bezeichnen, trifft es jedoch genau auf den Punkt: denn die zerstörte Optik ist ja erst der Clou an der ganzen Sache. Deshalb war es ja auch so teuer, ein Unikat, in liebevoller Handarbeit zerschnitten und gefranst. Made in Portugal, dort, wo die verantwortlichen Designer von Marques‘ Almeida ursprünglich herkommen.

Das Londoner Label zählt aktuell zu den wichtigsten Neuentdeckungen. Bei Marques‘ Almeida ist alles schief und krumm, nichts sitzt, wo es vermeintlich sitzen sollte, Träger sind verrutscht, lose Stoffbahnen flattern herunter und von ordentlichen Säumen scheinen Marta Marques und Paulo Almeida auch nicht viel zu halten. Die Kunst ihrer Entwürfe, die zu Preisen ab 300 Euro zu haben sind, liegt eben nicht in der Vollendung versäuberter Nähte und passgenau sitzender Hemdkragen. Viel besser: Destruktion ist die neue Perfektion.

Glamourös gefranst, fabelhaft verrutscht: wahre Kunst ist heute das, was nicht nach Kunst aussieht. Ungeschminkt einzigartig muss ein Kleidungsstück sein, wenn es wirklich für Furore sorgen will. Vom stilistischen Bruch, der Handwerk mit scheinbarer Nachlässigkeit, kristallbestickte Tops mit gelöcherten Jeans  aufeinander treffen lässt, schwärmen Modeschöpfer und Stylisten seit den Neunzigern. Jetzt erleben offene Nähte und lose Stoffdrapierungen ein modisches Facelifting.

Prada ist mit einer weiteren kontroversen Kollektion wie immer Spitzenreiter der Bewegung: für die Sommersaison 2015 hat Miuccia in Großmutters Stoffarchiven gefischt und einige wirklich hässliche Brokat- und Blümchengewebe zutage gefördert. Die Stoffe wurden zu hochgeschlossenen Patchwork-Tops und knielangen Röcken verarbeitet und sehen aus, als hätte ein gelangweiltes Kind mit stumpfer Papierschere alte Vorhänge zerschnitten und zu neuen Kleidern zusammengeflickt. Das Kind muss dann allerdings nicht nur gelangweilt, sondern auch ziemlich genial gewesen sein: denn was auf den ersten Blick wie selbstgebastelt wirkt, ist natürlich das Ergebnis wohlkalkulierter Raffinesse. Jede offene Naht sitzt bei Prada so, wie sie sitzen soll, Ärmelmanschetten sind akkurat geschlitzt und auch das Stück zerfranster weißer Seide, das da so zufällig und keck unter der passgenau geschnittenen dunkelblauen Kurzjacke mit aufgesetzten Kupfernähten hervorblitzt, ist kein Versehen.Auch bei Céline flattert und baumelt nichts ohne Kalkül. Was wäre das pinkfarbene Midi-Kleid aus Grobstrick mit glatt gebügeltem Saum? Phoebe Philo schneidet die Kanten lieber schief und zottelig. Am cremefarbenen Gittertop mit geometrisch geschichteten Stoffbahnen verrutschen die Stoffstreifen überm Handgelenk, und über üppig geblümten Midi-Kleidern hat Philo rechteckige Flicken drapiert, die sich scheinbar zufällig um den rechten Ellenbogen schmiegen – nur um den rechten, denn Symmetrie wäre ja last season.Dass sich die Tendenz zu Fransen und Flicken primär auf den Laufstegen der Supernobelfirmen beobachten lässt, verwundert nicht: denn je „kaputter“ solch ein ungesäumtes Stück, desto hochwertiger muss es sein. Beim Flickenkleid wandelt man auf einem gefährlich schmalen Grad zwischen brillanter Raffinesse und lumpigem Kartoffelsack. Das wiederum macht diesen Trend für Fast-Fashion-Ketten schwer kopierbar. Interessant: um exklusiv zu bleiben, widmen sich die Luxusdesigner neuerdings wohldosierter Destruktion statt taillierter Vollkommenheit. Bei Cédric Charlier ist ein schwarzer Blazer kreuz und quer mit sichtbaren Nähten und losen Fäden verziert – solch eine „Stickerei“ lässt sich nur schwer für 59,99€ nachproduzieren.Einen weiteren Bonus offenbart auch die neue Sommerkollektion von Marni, die sämtliche Königsdisziplinen der Schneiderkunst vereint und trotzdem alles andere als aufgeräumt aussieht. Mit überlangen Ärmeln, flatternden Judo-Gürteln und asymmetrisch drapierten Leinenstoffen über weißen Faltenröcken liefert Consuelo Castiglioni die perfekte Garderobe für moderne Frauen: denn deren größte Freiheit liegt heute darin, dass sie nicht mehr gemacht aussehen müssen, um Stilgefühl zu beweisen. Es ist jener pfiffige Hauch von zotteliger Dekadenz , der diesen Kleidern anhaftet, und den der allzeit treffsichere Style.com-Autor Tim Blanks schon in der vergangenen Sommersaison beim Urvater des achtlosen Glamours Dries van Noten definierte: „…the result was a perverse, audacious marriage of rich and poor. Opulence masked itself.“

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