Läuft bei Lagerfeld

WAS FÜR EIN ELIXIER TRINKT DIESER MANN EIGENTLICH ZUM FRÜHSTÜCK?

Laufstegmode kann ganz schön langweilig sein. Vor allem dann, wenn sie sich von Saison zu Saison immer nur im Kreis zu drehen scheint: schon wieder alles schulterfrei, bauchfrei, wadenlang, drapiert, all das schlicht und puristisch, die Jacke so betont lässig übergeworfen, und dazu ein Paar echt cooler Sneaker…wirklich zum Einschlafen schön. Was sollen wir eigentlich mit all diesen Marken, die sich aus Angst vor finanzieller Not bloß nach der trägen Masse praktisch orientierter Kunden richten, anstatt stilistisch mal ordentlich auf die Pauke zu hauen?

Zum Glück gibt es seit 1913 ein Modehaus, auf das wir uns in Bezug auf Originalität allsaisonal verlassen können. Chanel verkörpert seit jeher genau das, was die Mode trotz aller Redundanz noch so sehenswert macht – Zeitlosigkeit und Zukunftsfähigkeit, nobelstes Schneiderhandwerk und mondäner Rock’n’Roll. Und jedes Jahr, wenn das Haus zum Anlass der Präsentation seiner Métiers D’Art Kollektion an einen anderen berühmten Schauplatz seiner Geschichte einlädt, darf die Welt auf Neue staunen: wie macht Karl Lagerfeld das bloß? Welches Elixier trinkt dieser Mann zum Frühstück? Was kann er, was die anderen nicht können? Die Essenz seiner Genialität lässt sich nämlich ganz sicher nicht allein mit jenem Logo erklären, bei dessen Anblick jede halbwegs stilbewusste Frau von Peking bis Paris auf der Stelle Schnappatmung bekommt.

In diesem Jahr lud Chanel zur Präsentation der neuesten Schneiderkunstkollektion nach Salzburg aufs Schloss Leopoldskron. Was in Paris zum Alltagsgeschäft gehört, habe in der österreichischen 150.000-Einwohner-Stadt für einen regelrechten „Ausnahmezustand“ gesorgt, berichtete Alfons Kaiser in der FAZ. In chaneltypischer Manier wurden auch diesmal wieder alle bekannten Dimensionen gesprengt: vor festlicher Schlosskulisse, aus London und Paris eingeflogenen Polstermöbeln und barock beladenen Obst-Etageren zeigte Karl Lagerfeld eine Kollektion von größter anzunehmender Opulenz und Herrlichkeit. Zurückhaltender Minimalismus war ja noch nie des Kaisers Stärke – wozu auch? Mit schwarzen Hosen sorgt schließlich keiner für Furore. Und genau darum geht es doch bei Chanel: um Aufregung, Abenteuer, Rüschen, Volants, Stickerei, Lack und Leder, Perlen und Brillanten, um zauberhafte Dekadenz, die sich aber selbst niemals zu ernst nimmt. Die Modewelt mag das Zeitalter der Sportlichkeit zelebrieren, aber Chanel und Lagerfeld sind nicht die Modewelt. Beide stehen für unberechenbare Größen außerhalb dieser Galaxis. Und genau deshalb verlangt das Geheimnis der weiterhin stetig wachsenden Marke Chanel nach einer Erklärung. Bitte sehr: ich habe mich anhand einiger exemplarischer Laufsteglooks aus Salzburg an einer Analyse in 6 Punkten versucht.

I. Lagerfeld richtet sich nicht nach Trends, er macht sie selbst: indem er traditionell als unmodisch deklarierte Kleidungserscheinungen entstaubt und mit jener typisch mädchenhaft-mondänen Chanel-Signatur veredelt. Die klassische Lodenjacke kommt bei ihm in voluminöser Silhouette, mit grafischen Blütenapplikationen und kniehoch geschnürten Wildleder-Wanderstiefeln.

II. Weil sich Lagerfeld selbst keine Grenzen setzt, gehen ihm auch nach Jahrzehnten als Modeschöpfer niemals die Ideen aus: ein Dirndl soll nicht modern sein? Das sieht Karl aber anders! Mit transparenten Handschuhen und Kristallapplikationen lässt sich das Traditionsgewand auch außerhalb der Almhütte ausführen. Ein gefiederter Jägerhut auf dem Laufsteg? Warum nicht! Es kommt nur darauf an, was man aus dem Hut macht – in Chanels Fall sehen wir eine gelungene Kombination aus Tiroler- und Zirkusdirektor-Kopfputz. Lagerfeld schätzt seine Kundin als selbstbewusste und anspruchsvolle Frau des Jahrhunderts der weiblichen Emanzipation, deshalb bietet er ihr mit seinen Entwürfen auch immer wieder abenteuerliche Herausforderungen.
III. Das Prinzip der „Demokratisierung der Modewelt“ wird bei Chanel genau verkehrt herum interpretiert: nicht die Mode wird populär, sondern die Mode popularisiert die Nicht-Mode. Alpine Stickerei erlebt auf einer flott geschnittenen Kastenjacke ihren ersten großen Auftritt. Ein aufgeplustertes Rüschen-Volant-Kleid wirkt mit schwarzer Krawattenschleife plötzlich so cool wie drei pferdestehlende Cowboys. Durch die Stil-Adaption verschiedenster Kulturen – byzantinischer Orient, Wilder Westen oder Tiroler Alpen – erhebt Lagerfeld jede noch so exotisch erscheinende Ethnie in einen zeitgemäßen Kontext.
IV. Humor ist heute ein wichtiger Baustein in der Modewelt; nichts ist schlimmer als ein krampfhaft ernst gemeintes Kleid. Das weiß niemand besser als Lagerfeld, der selbst im Minutentakt einen druckfähigen Witz nach dem anderen erzählt. Auf ein almwiesengrünes Kleid hat er in dieser Saison putzige kleine Brezel-Broschen gesteckt. Auf die Ohren gibt’s rosa Kopfhörer aus geflochtenem Kaisergarn. Lagerfelds Kleider sind niemals streng, sondern immer charmant, oft ironisch, und dabei doch zeitlos und für jedes Alter geeignet, wie wir zum Beispiel auch anhand des Looks aus cremefarbener Kastenjacke, tomatenroter Anzughose, Rosette am Hemdkragen und als Cocktailkirsche obendrauf platziertem Hut mit Bürstenschnitt erkennen.
V. Chanel ist nie nur feminin, oder nur mädchenhaft, oder nur androgyn, oder nur maskulin, sondern mixt sämtliche Rollenbilder mit wohlbalancierter Raffinesse: zu Pfauenfederhut und Volantbluse gibt es zentnerschweren Ritterschmuck, metallische Sternenstickerei und rutschfeste Wanderstiefel.
VI. Mode ist kein Gebrauchsgegenstand, deshalb muss sie auch gar nicht erst versuchen, sich als solcher zu verkleiden. Mode ist Luxus, Prunk und Sinnlichkeit, und Chanel einer der erfolgreichsten Lieferanten dieser Dreifaltigkeit. Die bombastische Inszenierung vor schillernder Schlosskulisse betont nur das, was wir Außenstehenden uns im Geheimen wohl alle beim Betrachten der Bilder vom Défilé gedacht haben: wär‘ ich gern dabei gewesen. Mode löst Begehren aus. Für sachliche Pragmatik sind andere Branchen zuständig.

Der Sechs-Punkte-Plan zeigt: Lagerfeld weiß wirklich genau, was er tut. Seine Genialität ist kein glücklicher Zufall. Einzig das Filmedrehen sollte er langsam anderen Leuten überlassen. Der Streifen „Reincarnation“ mit Pharrell Williams, dessen Exklusiv-Song „CC the World“ wie die Kreation eines gelangweilten Grundschülers klingt, den man alleine ans Klavier gelassen hat, und Cara Delevingne, die (wie erwartet) nicht singen kann, sollte man sich aus Gründen akuter Zeitverschwendungsgefahr unter keinen Umständen anschauen. Lieber in den Bildern der neuen Kollektion schwelgen! Alle Bilder via style.com