Die zerrissene Frau

JOHN GALLIANO DEBÜTIERT BEI MAISON MARTIN MARGIELA

Diese Kleider sehen aus wie für eine Frau gemacht, die sich nicht entscheiden kann, wer sie sein will. Eine wilde Frau? Eine romantische Frau? Die Göttin der Finsternis?Die Amazonin des Großstadtdschungels? John Galliano liebt sie alle, die Frauen – solange sie echt sind. „I don’t love dolls“, hat der britische Modeschöpfer einmal gesagt. „I love women. I love their bodies.“ Oder: „I am an accomplice to get women what they want.“ Oder, sehr schön: „The problem is with men. I know I shouldn’t say this, but they’ve shrouded and hidden women to hide their incompetence.“ John Galliano ist bekannt dafür, Sachen zu sagen, die er besser nicht gesagt hätte. 2011 flog er wegen antisemitischer Äußerungen unter Alkoholeinfluss bei Christian Dior raus. Jetzt ist er wieder da: zum Auftakt der neuen Modesaison, eingeläutet von der Haute Couture, zeigte er am Montag eine 24-teilige Kollektion von eben jener finster-fantasievollen Surrealität, mit der er vor ein paar Jahren schon bei Dior Kleider Geschichten erzählen ließ.

Die ganze Kollektion wirkt wie ein Traum: skurril, unzusammenhängend, ein dichtes Gewirr loser Fäden und unterschiedlichster Stimmungen. Die Strumpfhosen sind halb cremeweiß, halb pechschwarz, genau wie die dramatischen Plateau-Klötze, auf denen die Models den Laufsteg hinabstolzieren. Der erste Look zeigt eine seltsame Fusion aus antiker Kleiderbüste und ärmelloser Weste mit Applikation von schwarzen Spielzeugautos. Ein anderes Outfit besteht aus herabrutschendem Doppelreiher, gefranstem Minirock und gefiedertem Kopfschmuck. Tüll trifft auf Spitze trifft auf Lack trifft auf transparentes PVC, dazu gibt es an den Kniescheiben zerrissene, hautfarbene Leggins. Haben sich die Models auf dem Weg zur Schau noch schnell das Knie aufgeschlagen?  Dann plötzlich ein tomatenroter Mantel, opulent mit überdimensionalen roten Muscheln und Schneckenhäusern gespickt. Ein Bustierkleid mit ausgefransten, lose zusammengehefteten Säumen ist auf Brusthöhe mit schweren Augenlidern und roten Wimpern besetzt. Ein dreieckiges Mini-Paillettentop wird mit Jeans-Hotpants, drapiertem Mantel und goldenem Kopfschmuck kombiniert, der die Models aussehen lässt, als wären ihnen nach dem Bade im Meer ein paar Algen im Haar hängen geblieben.

Jetzt eine taillierte Tigerprint-Jacke mit pointierten Schultern zum roten Wickelrock, und gerade will man anfangen, sich aufzuregen, da schwebt ein ganz freundlicher, luftig geschnittener schwarzer Hosenanzug über transparentem Top in Hautfarbe und kleinem BH den Laufsteg hinab. Und dann ein rotes Abendkleid mit Schleife am Rücken. Wie hübsch! – Aber nicht täuschen lassen. Der finale Look, der in Haute-Couture-Schauen traditionell für die Braut vorgesehen ist, sieht wieder aus, als hätte sich Galliano in der Morgendämmerung nach einem ganz diffusen Traum ins Atelier begeben. Drapierter roter Seidentaft, goldene Metallfäden, die aus aufgebauschten Ärmeln hervorwuchern, die Brustpartie schwer behängt mit rautenförmigen Spiegeln und kitschigen Funkelornamenten. Das Model trägt eine Fratzenmaske, als verzerrte Anlehnung an Margielas legendäres Markenzeichen, die Totalvermummung. Mit goldener Zackenkrone und breitem Mund mit gefletschten Perlenzähnen. Auf rotem Tüll. Was für ein seltsamer Auftritt: so prächtig, dass es wehtut hinzusehen – vor allem wenn man genauer schaut und plötzlich all die morbiden, düsteren Details dieser raffinierten Knallrobe entdeckt.

Vielleicht ist es genau dieses Element der Zerrissenheit, an dem es den Entwürfen der vielen erfolgreichen, aber zunehmend einfallslosen Modeschöpfer unserer Zeit zum großen Knall noch fehlt. Bei John Galliano hat noch nie irgendetwas dem Kommerz zuliebe aufgeräumt gewirkt, und wer obendrein bis zur Präsentation seiner ersten Haute-Couture-Kollektion für Maison Martin Margiela gedacht hatte, dass der Brite und der Belgier nichts gemeinsam hätten, wurde am vergangenen Montag eines besseren belehrt: denn die gemeinsame Schublade der beiden Designer ist, dass sie sich nie in irgendeine Schublade haben stecken lassen. Das macht ihre Kollektionen so aufregend und gleichzeitig so unbequem und bei alle dem tatsächlich irgendwie zeitgemäß.

Diese Kleider sind nicht traditionell schön, aber gerade deshalb müssen wir sie diskutieren. Ist Schönheit noch der Motor der Mode? War sie es jemals? Was sind eigentlich schöne Kleider? Solche, die selbst toll aussehen oder solche, die eine Frau toll aussehen lassen?
Auf jeden Fall präsentiert John Galliano hier eine Mode ohne ästhetische Vorschriften. Er zeigt keine 60 nahezu identischen Looks für Gelegenheiten wie den „Nachmittag am Pool“, „Kaffeetrinken in der Hotellobby“, „Cocktail-Empfang“ oder „Stadtbummel“. Viele Designer erklären ihre Kollektionen heute anhand des enormen Nutzwertes, den sie der „modernen Frau“ im Alltag bieten sollen –  jener Sorte Frau nämlich, die arbeitet und eine Firma gründet und Kinder kriegt und abends auf Galerie-Eröffnungen geht und für all diese Aktivitäten eine Garderobe braucht, in der sie einfach gut aussieht. Einfach und gut ist bei John Galliano überhaupt kein Thema. Sehen wir heute in unseren schwarzen Mänteln und grün-weißen Tennis-Schuhen und Céline-Trio-Bags nicht sowieso schon aus wie eine Armee Uniformierter? Warum sich ausgerechnet anpassen in einer Zeit, in der alles erlaubt ist?

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