Essen ist auch eine Sehenswürdigkeit

AUF ZU NEUEN TELLERRÄNDERN: WIE MAN KULINARISCH DIE WELT ERKUNDET


Es war mitten in der Nacht, dunstige Schwüle betäubte die Luft, ein staubig-feuchter Hitzefilm klebte auf der Haut, im Bus hing ein süßlicher Duft von Jasminblüten, die in Girlanden an den Fenstern baumelten. Draußen zogen Müllhalden und Kuhherden vorbei, tausende Menschen waren auf der Straße unterwegs, dabei war es drei Uhr früh. Wann schlafen die Inder eigentlich? Wir waren auf dem Weg von Chennai nach Tiruvannamalai, einer kleinen Stadt im Norden von Tamil Nadu. Eine Strecke von knapp 200 Kilometern, für die wir fast fünf Stunden brauchten. Indische Busse lassen sich gerne Zeit. Entscheidend für den Verlauf unserer Reise durch die indische Wallachei waren allerdings die Teepausen, die stündlich eingelegt und ausgiebig in die Länge gezogen werden mussten.

Das ist meine prägendste Erinnerung an diese Reise: die kleinen Cafés, die man in Indien an jeder noch so abgelegenen Straße findet. Man kann dort zu jeder Tages- und Nachtzeit tanken, Bollywood-Musik hören, essen und Chai trinken, einen stark gesüßten Gewürztee, der mit Milch gekocht und aus Kupferkannen kunstvoll in langem Strahl in kleine Gläschen gegossen wird. An der Theke gibt es Samosas, Kekse und Chips zu kaufen, Eierkartons stapeln sich bei 40 Grad Hitze neben der Zapfsäule, und frühstücken kann man auch, zum Beispiel Reiskuchen namens Idli oder frittiertes Fladenbrot, das sich mindestens 24 Stunden lang im Magen querlegt, bis man es endlich verdauen darf. Die Inder saßen seelenruhig auf weißen Plastikstühlen, tranken ihren süßen Tee und beäugten uns neugierig. Was man alles über ein Land erfährt, wenn man ins Restaurant geht.

Jedes Reiseabenteuer, das ich bisher erlebt habe, ist mir stets in Verbindung mit einer besonderen kulinarischen Erfahrung im Gedächtnis geblieben. Das liegt auch daran, dass gutes Essen einer der Hauptgründe dafür ist, warum ich so gerne in den Urlaub fahre. Essen ist Lebensgenuss, und für den macht man ja schließlich Ferien. Essen ist auch immer wieder ein Erlebnis, vor allem dann, wenn man gar nicht weiß, was man gerade isst. Einmal war ich in San Francisco. Wir liefen durch Chinatown. Meine Eltern, die mich von klein an gelehrt haben, Touristenattraktionen tunlichst zu meiden und immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was alle anderen machen, entschieden, zum Mittagessen in ein authentisches chinesisches Restaurant zu gehen.

„Wir gehen dahin, wo nur Chinesen sitzen“, sagte mein Vater und steuerte den nächstgelegenen Laden mit ausgeblichener Speisekarte und wenig appetitanregenden Abbildungen diverser Gerichte im Fenster an. Drinnen saßen, wie erhofft, nur Chinesen. Worauf wir auch gehofft hatten, waren Dumplings, von denen hatte meine Mutter im Reiseführer gelesen, und die wollte sie jetzt probieren. Bloß war ihr das Wort entfallen. „You must know it!“ insistierte sie, obwohl die Kellnerin nur ratlos den Kopf schüttelte. Sie sprach kein Englisch, weshalb sie mit der Dumpling-Beschreibung meiner Mutter – „It’s the Chinese version of Ravioli! You must know it!“ – nicht viel anfangen konnte. „I can draw it for you“, schlug Maman eifrig vor und malte sogleich mit Kugelschreiber ein Dreieck auf eine Serviette. Dumplings sind nicht dreieckig, aber woher soll man das wissen, wenn man noch nie Dumplings gegessen hat.

Lange Rede, kurzer Sinn, es gab keine Dumplings, sondern ein Gericht, das sich als „Chicken with Mango“ ausgab, allerdings verdächtig nach frittiertem Kniegelenk mit Knorpel aussah und auch so schmeckte. Die Portionen waren riesig. An den Nebentischen saßen Chinesen mit großen Pappschachteln, aus denen sie ihre vom Vortag mitgebrachten Reste aßen. Kaliforniens berühmtestes Chinatown ist mir nicht gerade als Hochburg der Gourmetküche im Gedächtnis geblieben. Und doch war es vor allem wegen dieser speziellen kulinarischen Erfahrung allemal einen Besuch wert.

Essen ist ein sinnliches Erlebnis. Wie also ließen sich Erinnerungen an einen bestimmten Ort besser speichern als über den Gaumen? Ich kann mich noch genau an das beste Quittensorbet meines Lebens erinnern, ich habe es mit 13 in einem kleinen Restaurant in Paris gegessen. Einzigartig bleiben die endlosen Essgelage im Libanon: am einen Tisch isst Du Mezze, Hühnerspieße und Lamm, zum Dessert ziehst Du um an eine zweite Tafel, die mit Platten und Schüsseln voll frischem Obst bedeckt ist. Einmal war ich in Griechenland, da besuchten wir eine Bäuerin auf ihrem Hof, sie servierte frisch erlegtes Lamm. Die Katzen strichen uns um die Beine und sprangen gelegentlich auf den Tisch. Das ganze Mahl über ließ mich der verstörende Gedanke nicht los, gerade gar nicht Lamm-, sondern Katzenfleisch zu verspeisen. In köstlicher Erinnerung habe ich dagegen die knusprigen Brote mit frisch gefangenem Fisch behalten, die ich in Istanbul bei Sonnenuntergang am Ufer des Bosporus gegessen habe.

Auch Essen ist eine Sehenswürdigkeit. Wer in ein fremdes Land reist, will Neues entdecken und über seinen Tellerrand hinausschauen. Wo ginge das besser als im Restaurant? Wahrscheinlich wurde diese Redewendung sogar dort erfunden, von einem reiselustigen, hungrigen Linguisten, der sich zum Mittagessen in einem tibetischen Lokal niederließ, um Dumplings zu kosten, von denen er mehrere Platten unterschiedlicher Sorten bestellte und nach Leerung des Schweinefleischdumplingtellers über dessen Rand die als nächstes zu vernichtende Portion ins Visier nahm. Oder so.

Was ich eigentlich sagen will: Bei der Wahl des nächstes Reiseziels sollte man sich unbedingt darüber Gedanken machen, ob es am Urlaubsort auch kulinarisch gesehen etwas zu entdecken gibt. Großartige Inspiration findet man dafür auf dem Blog „The Funnelogy Channel“, das mit unwiderstehlich appetitanregenden Bildern und Worten die kulinarische Weltreise eines Fotografen-Duos namens Nico und Gabi dokumentiert. „Food is one of the best representations of nature being translated into culture“, finden die beiden und haben sich deshalb aufgemacht, fremde Erdteile mit aufregender Esskultur zu erkunden: Albanien, Iran, Myanmar, Tibet, Vietnam, Hanoi. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, nach Albanien zu fahren. Aber diese knusprigen Byrek mit Spinat-Ricotta-Füllung, aus dem Steinofen gefischt von Kreshnik und Klotilda, den Betreibern des Restaurants Pica Liti im idyllischen Ghirokastra, sehen doch wirklich zum Anbeißen aus. Auf zu neuen Tellerrändern.


Grüner Reis in Teheran
Auf dem Markt in Tabriz, Iran
Im Teehaus in Myanmar
 Dumplings in Tibet
 Bành Xeo in Vietnam
Auberginen auf Amorgos
Auf dem Markt in Fethiye, Türkei