Ich habe in Berlin etwas beobachtet, das mir zunehmend auf den Geist geht. Ich bin eine Gelegenheitswutbürgerin, deshalb muss ich das hier artikulieren. Wahrscheinlich bin ich auch eine Spießbürgerin, was in diesem speziellen Fall zusätzlich von Bedeutung ist. Meine Beobachtung machte ich mehr als dreimal, three’s a trend heißt es, offiziell haben wir es hier also mit einer Modeerscheinung zu tun. Die sind prinzipiell im Auge zu behalten, da alles, was Mode ist, die Gefahr der Massenverbreitung birgt. Das wäre bei ausgerechnet diesem Trend besonders zu bedauern: neuerdings begegnen mir ständig Radfahrer und Dauerläufer mit tragbaren Musiklautsprechern. Bike Bass heißen die, früher nannte man sowas Ghettoblaster. Lärm für unterwegs ist also keine neue Erfindung, neu ist bloß, dass diese mobilen Lautsprecher mittlerweile so klein und handlich geworden sind, dass man sie praktisch überall mit hinnehmen kann. Dagegen scheinen Kopfhörer, die man in seinen MP3-Player reinsteckt, total uncool geworden zu sein.
Letztens war ich eines Morgens extra früh aufgestanden, um beim Laufen im frühlingshaft verwunschenen Park meine Ruhe zu haben. Ich rannte da also durch die Wiesen und genoss die Idylle und die vom Tau dampfende Luft, als plötzlich ein Fahrradfahrer des Weges geradelt kam. Dazu dröhnten scheppernde Techno-Beats durch die morgendliche Stille. Woher der Lärm kam, war zunächst unklar, denn das Gemeine an diesen neumodischen Ghettoblastern ist ja, dass man sie ihrer Zucchinigröße wegen nicht sieht.
Ich weiß, jetzt klinge ich wie meine Großmutter. Aber das macht nichts, weil meine Großmutter sowieso in vielen Dingen recht hat. Von ihr habe ich gelernt, andere Leute zu respektieren und sich rücksichtsvoll zu verhalten, das ist nämlich nicht nur nett, sondern auch sehr vornehm. Meine Großmutter ist so respektvoll, dass sie sich beim Kartenspielen partout weigert, die Pik-Dame wilde Sau zu nennen, obwohl diese Praxis bei uns in der Familie Tradition hat. Meine Großmutter findet, dass man eine Dame nicht Sau rufen dürfe, ebenso, wie es unter Strafe gestellt werden müsste, wenn Leute ihrem privaten Musikvergnügen in aller Öffentlichkeit und Lautstärke nachgehen. Meine Großmutter und ich sind uns in vielen Dingen einig.
Auf der Straße laut Musik zu hören ist für mich der Inbegriff asozialen Verhaltens. Es ist nicht asozial im Sinne von prollig, sondern a-sozial. Dem Menschen mit tragbarem Verstärker ist es völlig egal, ob die anderen Leute unter seiner Lieblingsband namens Rammstein leiden oder nicht. Der Mensch mit Ghettoblaster ist ein Angreifer mit mächtigen Freunden: Hallo hier sind meine Lautsprecher und ich, sagt er, wir sind in der Überzahl, als fang‘ bloß nicht an Dich zu beschweren, Du hast eh keine Chance gegen uns. Leute, die in der Öffentlichkeit laut Musik hören, sind mir in etwa so sympathisch wie Leute, die mir unaufgefordert vor die Haustür kacken.
Das Problem an der Sache ist, dass es, soweit ich das mit meinem nicht vorhandenen juristischen Fachwissen beurteilen kann, gesetzlich nicht verboten ist, vor anderer Leute Tür zu kacken oder mit Lautsprechern durch die Gegend zu radeln. Aber wie steht es mit der Moral? Für deren Verteidigung sind ja bekanntlich wir Spießbürger verantwortlich. Ausgerechnet bei so etwas wie Musikhören kann man uns deshalb aber besonders gut ausspielen: denn Musik ist doch was Schönes, und wer das verbieten will, ist eine Spaßbremse.
Wenn ich diesem dämlichen Fahrradfahrer mit seiner dröhnenden Zucchini in den Weg gesprungen wäre, um ihm meine Meinung zu sagen, dann wäre er vom Rad gefallen und hätte sich den Arm gebrochen und ich hätte ein schlechtes Gewissen bekommen und gedacht, was ich doch für ein rücksichtsloser, intoleranter Mensch bin, der anderen nicht ihren Spaß lässt. Das ist nämlich das eigentliche Problem an der Sache: wir Moralapostel wollen zwar unsere Ruhe haben, gleichzeitig aber keinesfalls als hetzender Pöbel angesehen werden. Von unseren Müttern haben wir außerdem gelernt, dass der Klügere immer nachgibt. Hör gar nicht erst hin, wenn Dich jemand ärgert, haben sie uns gesagt. Was aber, wenn man gar nicht weghören KANN? Dann ist man nicht der Klügere, der nachgibt, sondern das Schaf, das sich aus Angst vor seiner Entlarvung als Spielverderber alles gefallen lassen muss.
Auch ich gehöre zu dieser Sorte Spaßbremsen, die am Ende allerdings nur einen einzigen Spaß bremst, nämlich den eigenen. Ich lasse anderer Leute rücksichtsloses Bedürfnis nach unüberhörbarem Lärm über mich ergehen, obwohl es mir selbst den Spaß an der morgendlichen Sportmeditation im Park verdirbt. Warum wehre ich mich nicht? Ich finde, es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen und die Verteidigung bürgerlicher Moral zum Modetrend zu erheben. Das nächste Mal, wenn mir einer mit tragbaren Lautsprechern und Techno im Park kommt, gehe ich hin und sage ihm, was für ein dummer Spielverderber er ist. „Du Spaßbremse“, werde ich sagen.