Gestern wurde ich ertappt. Von Tim Blanks. In Berlin ist Modewoche, das ZEITmagazinhielt Konferenz im Kronprinzenpalais mit zahlreichen hochkarätigen Gästen. Der britische Modedesigner Erdem Moralioğlu war da (allerdings nur dank Christiane Arps sanfter Überzeugungskunst: „Ich musste auf ihn einreden wie auf ein krankes Pferd“), Bürgermeister Michael Müller (jetzt wissen wir endlich, wie er aussieht) und eben Tim Blanks, Editor at Large bei Style.com und einer der wichtigsten Modekritiker der Welt. Was will der eigentlich in Berlin, hatte ich vorher noch gedacht. Außer dieser Konferenz gibt es hier zur Modewoche doch wirklich nichts Aufregendes oder Innovatives zu sehen, zumindest für einen, der gerade von den Pariser Haute-Couture-Schauen kommt. Aber Tim Blanks sollte mich eines Besseren belehren.
Jede Saison rätsele ich, wie ein Modekritiker, der schon hunderte von Designern hat aufsteigen und fallen sehen, bei tausenden von Modenschauen in der ersten Reihe gesessen und abertausende Trends miterlebt hat, noch einen frischen Blick auf die Mode haben kann, ohne sich angesichts der ständigen Wiederholungen zu Tode zu langweilen. Woher kommt seine unverwüstliche Leidenschaft für die Mode? „I’ve always been curious, I think curiosity never fades“, sagte Blanks. „If you’re always curious, you will always find something new in the repetition.“
Erwischt, dachte ich. Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal mit echter Neugier bei einer Modenschau gesessen? Wann das letzte Mal richtig hingeschaut? Im März war ich in Paris zum Defilee von Christian Dior eingeladen. Ein Traum ging in Erfüllung – wurde aber enttäuscht. Ratlos stand ich nach der Show im Hof des Louvre und fragte mich, was aus meiner Begeisterung für die Mode geworden war. Ich schob es auf Raf Simons, dessen Winterkollektion unerwartet kommerziell und uninspiriert gewirkt hatte. Aber hatte ich denn wirklich hingeschaut? Tatsächlich verbrachte ich einen Großteil der Show damit, ein möglichst gutes Foto für Instagram zu schießen. So viel zum Thema Neugier. Ebenso habe ich viele Saisons nach nur flüchtiger Betrachtung über die Berliner Modedesigner gewettert, sie seien nicht innovativ und hätten keine Visionen. Aber das stimmt nicht. Man muss halt ordentlich hinschauen.
Das Visionäre in Kleidern zu finden, die einem im ersten Moment alt erscheinen, erfordert auch ein fundiertes Wissen über die Vergangenheit der Mode und die verschiedenen Stilrichtungen, die sie in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Tim Blanks hat dieses Wissen. „My inspirations are not of the future“, erklärte er.“I’m actually very old school. I use my fingers to write words, I’m informed by books and films and music.“ So kommt er zum Beispiel zu der Einschätzung, Alessandro Michele sei der neue Punk der Modewelt. Der Chefdesigner von Gucci steckt junge Frauen in wadenlange Faltenröcke, trutschige Schluppenblusen, setzt ihnen Wollbaretts und Kassengestelle auf. Sie sehen aus wie exzentrische Großmütter. Die Stücke selbst sind alt, die neuen Kombinationen aber wirken jung und frisch durch vermeintliche Kleinigkeiten: Schnürsandalen mit Bommeln, Zickzackmuster auf Pelzmänteln, Pampuschen mit großen Fellpuscheln. Wahre Raffinesse liegt in der Kunst des geschickten Recyclings.
Eine Modeerleuchtung in Berlin, das hatte ich nicht erwartet. Dabei ist es doch gerade diese Stadt, in der Kriegsbunker zu Kunstmuseen und Imbissbuden zu Gourmetrestaurants werden, wo eine Karotte eine kulinarische Neuigkeit sein kann und ein seidener Kimono eine Sensation – wie auf diesen Bildern zu sehen. Die Blusen und Wickelmäntel, die Freundin Lucia und ich hier tragen, sind neu, aber aus alten Stoffen von Dries van Noten und Hermès geschneidert. Ich habe sie in der Boutique von Rianna und Nina entdeckt, einem jungen Juwel der Berliner Modeszene. Die heiteren Farben und filigranen Muster passen zu meiner neuen Devise: ordentlich hinschauen! Das Neue im Alten finden! Neugierig bleiben! Tim Blanks lässt grüßen.











