Werdet schrulliger!

DER PULLUNDER HAT EUCH WAS WICHTIGES MITZUTEILEN

In meinem Jahrgang gab es einen Jungen namens Fridolin*. Fridolin war einer von diesen Jungs, die in amerikanischen High-School-Filmen immer den Anführer des Baseball-Teams spielen und die schönste und blondeste Cheerleaderin der Schule zur Freundin haben. Fridolin spielte Hockey, er war Schulsprecher, er war groß, gutaussehend, gut gebaut und sehr nett. Es gab nur eine Sache, die an Fridolin irgendwie komisch war: Er trug manchmal einen rosa Pullunder. Damit fiel er aus seiner Schönlings-Rolle. Dieser Pullunder machte ihn, trotz aller massentauglichen Sympathie, zu einer schrulligen Figur. Es wurde getuschelt, seine Mutter würde ihm morgens die Kleidung rauslegen und sei somit auch für den rosa Pullunder verantwortlich. Wahrscheinlich ein Gerücht. Ich würde Fridolin gerne mal anrufen und ihn fragen: „Fridolin, warum dieser Pullunder?“ Aber jetzt ist er gerade auf Zugfahrt durch die Mongolei, da erreiche ich ihn leider nicht.

Warum fanden wir Fridolin in seinem rosa Pullunder eigentlich so schrullig? Was macht dieses Kleidungsstück so bemerkenswert? Ich frage aus aktuellem Anlass. Der Pullunder ist in dieser Saison nämlich heimlicher Star auf so manchem Laufsteg. Zwar kommt er als bescheidener Nebendarsteller daher. Aber bei vielen sehr guten Filmen sind die Nebenrollen ja auch oft die eigentlich interessanten Figuren. So geht es dem Pullunder in diesem Jahr: in vielen sehr guten Kollektionen  – von Gucci über Bottega Veneta bis Marc Jacobs – sieht man ihn zwischen Schluppenblusen, Midiröcken und Marlenehosen als überraschenden Trumpf.

Bei Altuzarra gibt es ein Modell aus cremefarbenem Zopfstrick, unterm schwarzen Lederblazer getragen. Dior zeigte in seiner jüngsten Haute-Couture-Show funkelnd bestickte Strickpullunder über seidenen Minikleidern. Bei Marc Jacobs wird der Pullunder ohne was drüber oder drunter, dafür mit Blumenrock getragen, außerdem ist er mit Pailletten verziert. Bottega Veneta hat mehrere Exemplare aus gepunktetem Lurex im Angebot, Alessandro Michele kombiniert seinen geometrisch gemusterten Entwurf zur plissierten Mozartbluse. Die vielen Varianten des Pullunders haben eines gemein: Sie verleihen der Trägerin etwas Kauziges, sympathisch Spleeniges. Ein Mensch im Pullunder sieht erstmal aus wie eine Kreuzung aus Oberstudienrat und Money Penny.

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Was ist es, das den Pullunder zum Sonderling macht? Der Pullunder ist irgendwie nicht Fisch und nicht Fleisch. Ein Tanktop, aber aus Strick, ein Pullover, aber ohne Ärmel. Ein Zwitterwesen, eine Mischgestalt. Tatsächlich lässt sich der Mensch im Pullunder kaum auf eine Eigenschaft reduzieren. Sexy? Nein, dagegen spricht das gemütliche Material. Bieder? Auch nicht, denn Biederkeit kennt keine Experimente, sie hält sich an praktische Dinge wie Bausparverträge und Strickjacken. Feminin? Maskulin? Androgyn? Weder noch. Männer und Frauen tragen den Pullunder gleichermaßen. Ist es das, was ihn so schlecht einsortierbar macht? Ist der Pullunder gar das erste wirklich geschlechtsneutrale und damit transgenderfreundliche Kleidungsstück? Und ist es das, was wir am Pullunder so schrullig finden?

Der Pullunder war in den siebziger Jahren sehr beliebt – in einer Zeit, die erstmals auch für Geschlechtsneutralität in der Mode warb. „Die Frauenbewegung attackierte die Mode als männliches Unterdrückungselement“, schreibt Gertrud Lehnert in ihrem Buch Schnellkurs Mode. Das, was wir heute als „Seventies Revival“ in den Schaufenstern der High-Street-Ketten sehen – Jeans-Minis, Schnürblusen, Plateau-Sandalen – hat mit modischer Geschlechtsneutralität natürlich wenig gemein. Für die Massen überliefert wurde aber eben auch nur Uschis Groupie-Look. In Vergessenheit geraten sind die geraden Jeans, die Latzhosen, schlichten Pullover und Blusen, jener asexuelle Look der Siebziger, aus dem auch der Pullunder hervorging. Später gesellte sich der Exotismus-Trend dazu, bunte Wickelkleider, Flugärmel, Strickanzüge, Cordsamt – und Gehäkeltes, ganz viel Gehäkeltes. Auch gehäkelte Pullunder. Miuccia Prada erinnert in ihrer diesjährigen Resort-Kollektion für Miu Miu an den Häkelpullunder der exotischen Siebziger: Zu Seidenblusen und Printkleidern schickte sie mehrere Exemplare im Topflappenlook auf den Laufsteg. Das sah irgendwie merkwürdig und dabei sehr schön aus.

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Ist schrullig vielleicht das neue schick? Die Entwicklung wäre auf jeden Fall zu begrüßen. Denn Schrulligkeit steckt uns in keine Schubladen. Das ist das Schöne am Schrulligsein: in größtmöglicher Freiheit bewegt man sich abseits festgefahrener Konventionen. In diesem Sinne ist das Wort also auch unbedingt als Kompliment zu verstehen. Sexy, feminin, androgyn, maskulin, Fisch, Fleisch, Tanktop, Pullover – wer wollte sich in unseren freilebigen Zeiten schon so streng etikettieren lassen?

Caitlyn Jenner hat sich im Satin-Body auf das Cover der Vanity Fair gesetzt. Die USA haben gerade die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert, & Other Stories veröffentlichte gestern eine neue Kampagne mit Transgender-Models. „There are just more categories now“, sagt Andreja Pejic, australisches Supermodel, geboren als Andrej, neulich in einem Interview mit der amerikanischen VOGUE. „It’s good. We’re finally figuring out that gender and sexuality are more complicated.“

Aus der Rolle zu fallen wird gerade zum gesellschaftlichen Trend. Und ebenso wie Homesexuelle und Transmenschen fällt auch der Pullunder aus der Rolle. Vielleicht ist er deshalb viel mehr als nur eine Modeerscheinung – nämlich ein Symbol, ein Aufruf: Brecht aus! Werdet schrulliger! Mode ist nicht so banal, wie manche Leute denken. Sie erzählt Geschichten, sie erzeugt Bilder, die bekanntlich stärker sind als tausend Worte. Sie veranschaulicht, was unsere Gesellschaft gerade umtreibt.

Vielleicht sollte ich Fridolin wirklich mal wieder anrufen. „Fridolin“, würde ich ihn gerne fragen.“Trägst du eigentlich noch deinen rosa Pullunder?“

*Name geändert!
Headerbild: „No debutante“, fotografiert von Alaisdair McLellan für VOGUE UK. Laufstegbilder über style.com