Wo ist Whitney?

ICH HÖRE NUR NOCH ALTE MUSIK. VERPASSE ICH WAS?

whitney-houston-fashion-91Es kommt vor, dass ich mich alt fühle. Ich weiß, 21 ist kein Alter. Aber irgendwie habe ich ständig den Eindruck, dass um mich herum alle irgendwas total Jugendliches machen, während ich zur zeternden Omi geworden bin, die sich bei ihrem Gemüseverkäufer über die Marotten der jungen Leute beklagt. Ich gehe nicht feiern, ich trage keine Hotpants, ich rauche nicht, ich habe noch nie Drogen genommen. Lieber bügle ich meine Jeans, lese die Zeitung, gehe auf den Wochenmarkt und trinke abends auf dem Balkon Campari Orange. Es fehlt nur noch, dass ich den Sonntagnachmittag auf einer Parkbank verbringe und Passanten anquatsche. Letzten Freitagabend habe ich Tomatenchutney gekocht, während die meisten anderen Berliner meiner Generation wahrscheinlich gerade im Berghain Pillen einwarfen und zu einer Musik tanzten, deren Sinn und Inhalt ich nicht verstehe.

Jetzt klinge ich aber wirklich wie meine Großmutter. „An meinen schlechten Augen merke ich es besonders“, klagt die immer über das Älterwerden. Nun, ich merke es an der Musik. Seit Wochen verkümmert hier die Musikrubrik, weil ich es mir nahezu vollständig abgewöhnt habe, neue Musik zu hören. Das war nicht immer so, wie ein Blick ins Archiv zeigt. Weil ich aber seit einiger Zeit kaum zeitgenössische Sounds, sondern fast nur noch alte Klassiker aus den 70ern und 80ern höre, ist es mit dem Vorstellen neuer Musik schwierig geworden. „Ich weiß gar nicht mehr, was die jungen Leute heute so hören“, erzählte ich neulich meinem Gemüseverkäufer. Gelegentlich schalte ich mal das Radio von Colette ein, wo meistens disharmonischer Deep House oder irgendwas Sphärisches läuft, das so klingt, als wäre die Platte hängen geblieben. Widerwillig lasse ich mir bei Spotify die aktuellen „Hits“ vorspielen. In ganz seltenen Fällen sitze ich in einem Taxi, da läuft dann Rihanna im Mainstream-Radio.

Neulich hörte ich von einem 20-jährigen Typen aus Nordwestmecklenburg, der in den USA gerade „als erster Deutscher seit 1989“ die Charts anführt. Felix Jaehn heißt der, er wird als nächster David Guetta gehandelt. In der Frankfurter Allgemeinen las ich dazu, DJs seien die neuen Superstars, ein Mann wie Calvin Harris verdiene mit seiner am Computer zusammengeschusterten elektronischen Tanzmusik 38 Millionen Euro im Jahr. Felix Jaehn sei einer von ihnen. Soweit haben wir es schon: Ich muss die FAZ aufschlagen, um mir etwas über die musikalischen Vorlieben meiner eigenen Generation erzählen zu lassen.

Jedenfalls habe ich Felix Jaehn gleich mal gegooglet, jetzt war ich doch neugierig. Immerhin kommen wir beide aus Norddeutschland und sind gleich alt, wer weiß, vielleicht habe ich Felix, den nächsten Guetta, früher sogar mal auf der Reeperbahn getroffen, damals, als ich noch minderjährig und keine Omi war und meine Wochenenden ohne elterliche Erlaubnis in Elektro-Kellern verbrachte.

Ich stieß auf ein Lied namens „Ain’t Nobody“. Jaehn hat aus dem 80er-Klassiker von Chaka Khan einen leichtfüßig tröpfelnden Elektro-Song gemacht. Das fand ich interessant: Ein Zwanzigjähriger wird in den USA zum Superstar, weil er einem alten Hit, zu dem meine Mutter auswendig mitsingen kann, einen neuen Anstrich verleiht. Es sind alte Melodien und Textzeilen, mit schnellerem Beat und jüngerer Stimme frisch aufbereitet. Der Jugend gefällt es. Junge Musik ist es, streng genommen, trotzdem nicht.

Bin ich vielleicht doch nicht die einzige Omi meiner Generation? Wenn man sich so umhört, bekommt man jedenfalls den Eindruck, dass wirklich neue, also fortschrittliche Musik auf viele Leute meines Alters gar keinen so großen Reiz ausübt. Wenn man in Berlin in eine gute Bar geht, laufen dort oft Sachen von Imagination, Fleetwood Mac, alte Madonna-Hits. Earth Wind & Fire erlangten mit „September“ und weiteren Stimmungsknallern als Soundtrack von „Ziemlich beste Freunde“ neuen Weltruhm bei der nachrückenden Generation. An Silvester habe ich mit meinen Freunden bis zum Morgengrauen zu „Tijuana Taxi“ getanzt. Wenn die Leute heute ihren 25. oder 30. Geburtstag feiern, dann gerne unter dem Motto „80er“ oder „Voguing“, auch wenn sie mit dieser Zeit bis auf ihre eigene Geburt gar nichts zu tun haben. Taylor Swift oder Ariana Grande, so was hört man auf diesen Parties nicht. Neue Musik ist unter urbanen Mittzwanziger-Hipstern nicht so hip, wie man denken würde.

Selbst wenn viele erfolgreiche Stücke „neu“ im Sinne von „gerade erschienen“ sind, scheinen sie oftmals von den Sounds vergangener Dekaden inspiriert. Was ist heute überhaupt noch „neu“? Das fragt man sich nicht nur bei Jaehns „Ain’t Nobody“-Remake. Es sieht fast so aus, als ob die Musikproduzenten heute immer mehr auf die Nostalgie ihrer Hörer eingehen und ihnen verstärkt Musik vor die Ohren setzen, die stilistische Elemente der guten alten Zeiten aufgreift. Der Song „Somebody that I used to know“ von Gotye wurde vor drei Jahren zum Super-Radio-Knaller. Wenn man genau hinhört, lassen die Harmonien, die sanften Vocals, die gezupften Gitarrenklänge das Lied allerdings eher nach einem Siebziger-Hit klingen. Dazu gab es dann noch eine Cover-Version, in der fünf Leute total old school auf einer einzigen Gitarre spielten. Wie bei den Pfadfindern!
Ghosts of Venice, Disco-Musiker aus Los Angeles, haben den 80er-Song „Take me to the top“ tanzflächentauglich neu aufgelegt. „Uptown Funk“ von Bruno Mars und Mark Ronson könnte man allein des Videos wegen sofort für ein Produkt der Achtziger halten: rosa Sakko, schwarze Lackschuhe, Goldkette, weißer Anzug, dazu flotte Beats und Trompete. Nile Rodgers, Pionier der späten Siebziger-Disco-Szene, hat vor ein paar Monaten den neuen Song „I’ll be there“ herausgebracht. Im Video tanzt Karlie Kloss im weißen Schlag-Overall unter Disco-Kugeln.

„Warum klingt es, als habe gerade das Jahr 1962 begonnen?“ fragte Niklas Maak vor ein paar Jahren, als Lana del Rey gerade zum Superstar wurde. „Warum der Retro-Zauber?“ – der, wie jeder Eames-Chair-Besitzer weiß, längst alle Bereiche des Freizeitlebens erreicht hat: die Mode, die Möbel, die Musik. Warum nur? Warum schmeißt keiner eine Bravo-Hits-2014-Party, warum müssen es immer die 80er sein? Wieso kann ich seit Jahren sämtliche Greatest Hits von Whitney Houston in Dauerschleife hören, während mir Rihannas Elektro-R’n’B nach nur zwei Stücken Kopfschmerzen bereitet?

Überhaupt, Whitney! Dramatische Königinnen wie sie, solche, die ganze Konzerthallen zum Heulen bringen, gibt es heute nicht mehr. Beyonce sieht toll aus und hat eine tolle Stimme. Lady Gaga ist, wie Niklas Maak es treffend ausgedrückt hat, ein“Mischwesen aus Mensch, fleischfressender Pflanze, Architektur und Wahnsinn“. Ihre Musik berührt nicht, sie unterhält bloß – so wie Felix Jaehns „Ain’t Nobody“ zwar die Füße zum Wippen bringt, aber nicht den Leib zum Tanzen und die Seele zum Glühen. Und selbst wenn millionenschwere DJs wie Calvin Harris in berühmten Clubs Tanzflächen zum Beben bringen – Fast-Food-Musik ist das, aber keine Kunst. EDM-Musiker spielen kein Instrument, sie singen nicht. Ihre Stücke entstehen am Computer.

Vielleicht ist es das, was mich als Omi meiner Generation an neuer Musik so abstößt: Ich halte sie für Trash, nicht für Kultur. Sich mit Klassikern, ob Beethoven oder Fleetwood Mac, auszukennen, ist dagegen ein Zeichen für Intellekt und Kultiviertheit. Taylor Swift ist was für Teenager, Whitney Houston was für Kenner. Selbst wenn Whitney auch mal ein Popstar war, bevor sie zur Ikone wurde.

Andererseits ist es aber auch genau diese Einstellung, die mir das Gefühl gibt, alt zu sein: Ich habe eine konservative Meinung. Ich halte erst das für anspruchsvoll und damit bemerkenswert, was mehr als drei Jahrzehnte im öffentlichen Gedächtnis überlebt und dabei charmante Patina angenommen hat. Ist das dumm? Kann Taylor Swift mehr, als ich ihr zutraue? Was verpasse ich an neuer Musik? Vor allem aber: was ist wirklich neu, nicht aufgewärmt, kein Remix oder digitalisierter Retro-Sound? Und dabei trotzdem leidenschaftlich, intelligent, originell? Bitte, die Omi hätte gerne ein paar Vorschläge von den jungen Leuten. Die Kommentarspalte heißt Euch herzlich willkommen. Auf dem Weg dahin gibt’s ein paar Lieblingsklassiker – zum Vergleich (und weil sie so schön sind!). Auf geht’s!
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