Eine Tradition in meiner Familie ist es, am Sonntagmorgen im Bademantel zu frühstücken. Es ist kein Gesetz, an das man sich zu halten hat, aber wenn ich so an meine Kindheit zurückdenke, kann ich mich an viele sonntägliche Gelage am Frühstückstisch erinnern, zu denen niemand, außer dem Hund vielleicht, straßentauglich angezogen erschienen wäre. Vor allem war es schön, meinen Vater, den man unter der Woche nur morgens und abends in Berufskleidung zu Gesicht bekam, am Wochenende mal in Schlafanzug und Frotteemantel abschalten zu sehen. Maman im Morgenrock war keine Sensation, sie zog ihren von Montag bis Freitag oft erst dann aus, wenn wir alle aus dem Haus gegangen waren. Aber mein Vater im Bademantel war das ultimative Symbol für schönstes Wochenendgegammel.
Heute ist das ein bisschen anders. Bei den Schauen der Männermode im vergangenen Juli war kaum eine Modeerscheinung so präsent wie der Bademantel: bei Gucci aus grüner Seide und mit Fellmanschetten, bei Dolce & Gabbana mit orientalischem Muster über passenden Boxershorts, bei Ermenegildo Zegna aus rosa-kariertem, japanischem Webstoff. Dazu gab es allüberall Pyjamas in sämtlichen Geschmacksrichtungen zu sehen: bei Alexander McQueen mit Seemannsmotiven, bei 3.1. Phillip Lim in babyblau, bei Topman in ocker-weiß gestreift.
Damit ist es amtlich: Der Mann im Bademantel ist jetzt nicht mehr privat. Er wurde ins Licht der Öffentlichkeit geschmissen. Da steht er nun und wartet darauf, dass wir ihm was zu tun geben. Denn mal ganz ehrlich: Was soll ein Mann abseits des Frühstückstisch mit einem Bademantel?
Lustigerweise habe ich gerade erst neulich, als ich anfing, mir über Männer in Bademänteln Gedanken zu machen, einen auf der Straße gesehen. Wirklich wahr: Direkt vor meiner Haustür spazierte ein Herr im blauen Frottee mit rotem Bärendruck vorbei. Wenn ich ihn nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es auch nicht glauben, so klischeehaft und erfunden klingt es. Man könnte sagen: Toll! Da hat endlich mal einer bei der Fashion Week aufgepasst und den Laufstegtrend gleich auf die Straße gebracht! Leider sah dieser bebademantelte Mensch aber gar nicht so schick aus wie ein Zegna-Model, sondern eher ein bisschen verwahrlost (mein Papa würde sagen: „verloddert“, das heißt so viel wie: gerade aus dem Irrenhaus entlaufen). Er bot ein schönes Beispiel dafür, auf was für einem schmalen Grad mann bei dieser Modeerscheinung wandelt. Der Mann im Bademantel hat viele Gesichter.
Wir erinnern uns an das Bild des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Er sitzt auf dem heimischen Sofa, trägt Pyjama und Bademantel, und telefoniert. Das Foto entstand zur Zeit der Grenada-Invasion. Es ist das Bild des Mächtigen, der vor allem anderen immer zuerst an den Staatsdienst denkt. Hab‘ zwar gerade meinen Bademantel an, bin aber weit davon, mich in die Badewanne zu legen. Das Volk geht vor! Reagan war groß darin, sich als heiliger Samariter seiner Untertanen zu inszenieren. Der Mann im Bademantel auf dem heimischen Sofa, am Telefon in wichtige politische Gespräche vertieft, das wirkt hier symbolisch für: Ich bin so einflussreich und unersetzlich, ich arbeite sogar im Privaten.
Dann gibt es natürlich Hugh Hefner, das vielleicht hartnäckigste aller männlichen Morgenrockmodelle. Er ist, wie Tillmann Prüfer im ZEITmagazin schreibt, der letzte verbleibende Verfechter des einst in gehobenen Kreisen etablierten Hausmantels. „Einen Hausmantel zu tragen bedeutete einen gewissen Luxus“, schreibt Prüfer. „Man empfing auch gern Gäste darin. Der weiche Überwurf, der locker über dem Hemd getragen wurde, machte deutlich, dass man zu vornehm war, das Haus zu verlassen. Alle nötigen Gänge erledigten andere für einen.“ Ein ähnliches Image verkörpert auch der Musiker Chilly Gonzales, der gerne in Bademantel und Pantoffeln auf der Bühne erscheint. Der hat ein Leben: Gonzales‘ Beruf besteht im Klavierspielen. Für diesen Traumjob muss er nicht aus dem Haus gehen. Sein Steinway steht bei ihm Zuhause. So convenient! Gleiches gilt für Julian Schnabel, Künstler, berühmt für seine Pyjama-Outfits. In allen drei Beispielen ist der Mann im Bademantel Testimonial für Amüsement und Lebensgenuss. Er kontrastiert den humorlosen Steuerberater im Anzug. In Hefners Fall ist der Bademantel natürlich auch Berufskleidung, er symbolisiert die beruflich bedingte Nähe zum Bett.
Seit diesem Sommer hat der Mann im Bademantel nun noch ein weiteres Gesicht dazu gewonnen. Der faule, aber reiche Arschlochtyp verbringt seine Tage in großen Hotelsuiten mit Flachbildschirm, behandelt den Zimmerservice wie Rindvieh und findet sich selbst zu wichtig, um doch mal was Ordentliches überzuziehen. Zwei Männer verkörpern den Look des Bademantel-Arschlochs: Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf. In diesem Video echauffieren sich die beiden in schönster BILD-Zeitungs-Pöbelsprache über die „Pleitegriechen“, die den Deutschen ihre schönen Euros wegnähmen. Derweil hüpfen sie im weißem Frottee auf ihren Kingsize-Betten herum. In Jeans und T-Shirt wäre die gespielte Boshaftigkeit kaum halb so gut rübergekommen. In den Kollektionen der Modedesigner ist von all diesen Images allerdings und zum Erstaunen aller keines vertreten. Bei Gucci, Zegna und Dolce wirkt der Mann in Morgenrock und Pyjama in erster Linie lässig und relaxed. So wie einer, der sich gerne mal zurücklehnt, ein bisschen vor sich hin philosophiert, Kaffee trinkt, den Zeitungsfeuilleton liest, auch im Alltag ganz er selbst ist – genau wie mein Vater beim Sonntagsfrühstück. „Der neue Mann ist extrem entspannt“, doziert Tillmann Prüfer. „Er muss sich nicht in den Frack zwängen, um Eindruck zu schinden. Er beeindruckt durch Lässigkeit, ganz so, als wäre er überall zuhause.“
Ist der neue Mann in Hauskleidung vielleicht gar die Vision des modernen Hausmannes? Die Frau geht mächtig angezogen ins Büro, der Mann bleibt im Morgenrock daheim, schreibt Einkaufslisten und lässt die Handwerker herein? Stefano Pilati, Chefdesigner bei Ermenegildo Zegna, hat neulich in einem Interview gesagt, die Mode des Mannes entwickele sich bisher nur schleppend, weil sich auch sein Rollenbild noch nicht grundlegend verändert habe. „Die langsame Evolution der Männergarderobe sagt etwas über die Rolle des Mannes in der Gesellschaft aus“, sagt Pilati. Stimmt: Richtig aktiv setzen sich selbst modern denkende Männer kaum für Gleichberechtigung ein. Wie in alten Zeiten dominieren sie in Führungspositionen – und wie in alten Zeiten tragen sie dazu Anzug und Krawatte, ein Outfit, das sich über Jahrzehnte hinweg nur unwesentlich gewandelt hat.
Der Bademantel könnte hier Abhilfe schaffen. Er ist das ultimative Symbol für Häuslichkeit und entspannte Formlosigkeit. In einem Bademantel konkurriert man nicht, man kämpft nicht, man dominiert nicht. Der Mann im Bademantel sagt aus: Ich kann, muss aber nicht den Superman spielen, weil die Frauen das ja ebenso gut machen können. Vielleicht ist der Bademantel gar das erste feministische Kleidungsstück für Männer, die trotzdem weiterhin noch als solche wahrgenommen werden wollen. Wenn ich so an die Sonntage meiner Kindheit zurückdenke, kann ich mich daran erinnern, dass mein Vater am Sonntagmorgen in Pyjama und Bademantel mit Vergnügen auch das Tischdecken übernahm. Fällt mir grad so ein.