Ich wär‘ so gern originell

MAINSTREAM KÖNNEN JA DIE ANDEREN SEIN

Im Internet kursiert gerade eine Barbie mit Wanderrucksack und Nerd-Brille. Die brünette Plastikpuppe hat einen Instagram-Account, er heißt @socalitybarbie. Eine anonyme Fotografin, von der man nur weiß, dass sie aus Portland kommt, fotografiert diese Barbie vor Hügelketten, Ozeanen und herzförmigen Kaffeeschaumhauben. @socalitybarbie ist die Parodie der besserbürgerlichen Naturliebhaber-Hipsterin, genau die, von der sich heutzutage tatsächlich hunderttausende in den sozialen Netzwerken tummeln. 

500 000 Follower hat @socalitybarbie mit ihrer pointierten Satire mittlerweile angezogen. Immer mehr Medien berichten über den Account. Ich war auch kurz davor, dann habe ich es mir anders überlegt. Anstatt zu einer Lobeshymne über die erste gesellschaftskritische Barbie seit Menschengedenken anzusetzen, habe ich mich gefragt: Warum finden alle Leute diesen Puppen-Account so interessant? Was ist das Geheimnis eines waschechten Internethits, dessen Fangemeinde innerhalb weniger Wochen von 7000 auf 500 000 Follower anwächst? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass @socalitybarbie wohl originell sein muss. In unserer heutigen Gesellschaft ist Originalität ja bekanntermaßen die beste Rechtfertigung für Ruhm. Sowas gab es noch nicht, das ist was Neues: Eine Barbiepuppe, die sich über die echten Barbies der Social-Media-Welt mockiert.

„Humble enough to know I’m not better than anybody wise enough to know that I’m different from the rest“„Coffee & Kinfolk. Cuz my lyfe is beautiful“

Bisher habe ich Originalität immer für ein Qualitätsmerkmal gehalten. Sonst hätte ich mich wohl auch gar nicht erst gefragt, was @socalitybarbie wohl hat, was ich nicht habe. Solche Fragen zu klären ist wichtig für jemanden, der sein halbes Leben damit verbringt, nach dem Ideal des Abgehobenseins zu streben.

Ich habe schon als Kind gerne alles anders gemacht, natürlich auch deshalb, um es halt um jeden Preis anders zu machen. Lange bevor ich anfing, mich ernsthaft mit Mode auseinander zu setzen, war Kleidung für mich ein Mittel zur Distinktion. Im Alter von drei Jahren trug ich fast jeden Tag den gleichen gelben Pullover, mit Blumen und meinem Namen in Schreibschrift darauf. Diesen Pullover hatte niemand sonst, denn nur ich hieß Claire. Überhaupt war ich immer mächtig stolz auf meinen in Deutschland eher seltenen Vornamen, den ich ständig buchstabieren musste, nicht ohne den Leuten im gleichen Atemzug noch mitzuteilen, dass meine Eltern mir den Namen mit französischer Aussprache gegeben hatten und man ihn streng genommen auch entsprechend betonen müsse, nämlich mit sanft ausklingendem ‚ch‘ am Ende. So originell. 

Als ich älter wurde und anfing, Modezeitschriften zu lesen, wurde Kleidung für mich zur wichtigsten Währung in Sachen Originalität. Mit 14 bekam ich meine Nähmaschine geschenkt. Im Geiste schuf ich ganze Kollektionen origineller Einzelstücke, zu Silvester nähte ich mir meine Kleider selbst (wenn auch mit meist tragischem Ausgang). Ich trug pinkfarbene Hosen mit Palmenprint, eine Halskette aus Legosteinen, zentimeterdicke Plateausandalen, grüne Leggins zum Flohmarktblazer, ein weißes T-Shirt mit „Avantgarde“-Aufschrift. Eine Zeitlang nannten mich meine Mitschüler Claire Avantgarde. So originalitätsversessen ist man mit 16, dass man sich sogar über den albernsten aller Spitznamen freut – solange ihn sonst keiner hat. 

Jetzt bin ich einigermaßen erwachsen, mein Umfeld und ich haben die Pubertät abgeschlossen, und doch scheint mir noch immer kaum eine Eigenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung so hoch gehandelt zu werden wie die Originalität. Wir leben in Zeiten des Individuell-um-jeden-Preis-Wahnsinns, jeder will bloß nicht so sein wie die Nachbarn, jeder will sich abheben und durch das gewisse, geheimnisvolle Etwas auszeichnen, denn spießbürgerlich und Mainstream, das sind natürlich immer nur die sogenannten anderen. Ich bin ich, und du bist nur du. Das Phänomen Instagram ist dafür ein schöner Beweis: Plötzlich finden wir selbst banale Momente unseres Privatlebens originell genug, um sie der Umwelt mitteilen zu müssen. Das Selfie ist das Kunstwerk des Durchschnittsbürgers, der sich damit über den Durchschnitt hebt: schaut mal, wie ausgefallen ich bin. Jemand, der sich selbst nicht originell findet, verbreitet keine Selbstporträts. 

Hält sich für ein Kunstwerk: Kim Kardashian

Originell, ein Wort, das man heute fast so häufig liest wie perfekt, cool, elegant oder schön. Im Duden wird Originalität definiert als „ursprünglich, schöpferisch, eigenartig, einzigartig, eigen, neu, urwüchsig, selbständig, angeboren, echt, natürlich, komisch.“ Das klingt gut, das klingt nach besonders, und besonders wollen ja alle sein. Denn der Sonderling schwebt über dem grauen Mainstream, er wird bewundert für seinen Mut, es anders zu machen als die Masse. Das höchste Lob, dass ein Modeschöpfer für seine Kollektion bekommen kann, lautet originell. Es bedeutet, dass seine Ideen seine eigenen sind, dass er genial genug ist, selbst etwas noch nie Dagewesenes zu erschaffen und nicht bloß irgendwo abzukupfern. 

Die Frage ist nur: Kann man überhaupt noch originell sein? War nicht sowieso alles schon mal da? Nach Jahren des intensiven Strebens nach Originalität frage ich mich mittlerweile, ob wir nicht tatsächlich alle aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, ob wir nicht alle, ich und du eingeschlossen, „Masse“ sind, in der sich jeder für besonders hält und demnach keiner besonders ist. Und wenn es so ist, dass Originalität de facto gar nicht möglich ist – warum halte ich sie dann immer noch für das Maß aller Dinge? 

Im Archiv der ZEIT habe ich einen Artikel von 1953 gefunden: „Der Wettlauf um die Originalität.“ Offenbar lag die schon damals schwer im Trend. Herbert Eisenreich bezieht sich in seinem Text auf die Kunstwelt, aber seine Thesen sind bis in die Gegenwart allgemeingültig – zumal sich ja heute jeder mit eigenem Instagram-Konto für einen Künstler hält. „Unter den Kriterien heutiger Kunstbetrachtung rangiert die Originalität meist an erster Stelle“, schreibt Eisenreich. „Der Künstler wird maßlos überfordert, immer wieder Neues, Neuestes, Allerneuestes von sich zu geben; unter Androhung der Disqualifikation wird er hineingehetzt in die mörderische Rennbahn der vorgeblichen Originalität.“ 

Das war wohl nicht immer so. Laut Eisenreich herrschte in den Künsten des Barock noch eine einheitliche Sprache, Musik und Literatur folgten immer wieder den gleichen stilistischen Prinzipien, Gemälde wurden selten signiert. „Es zählte und interessierte das Werk, nicht die Person dessen, der es hervorgebracht hatte.“ Es ging um den Inhalt einer Sache, nicht darum, wie neu sie war. Heute ist das natürlich anders: Dank des Internets fokussieren wir in fliegendem Wechsel auf immer wieder neue Menschen, Dinge und Trends, auf satirische Barbies wie auf den neuesten Klatsch der Kardashians, anstatt den Blick auf die Qualität einer Sache zu richten. Nur was neu ist, gilt als originell, nur was originell ist, gilt als cool. 

Doch bereits vor dem Internet scheint es solche Hipster auf der Suche nach dem immer allerletzten Schrei gegeben zu haben.„Dieser „Gebildete““, schreibt Eisenreich, „geht nicht in eine Galerie, um schöne, große Werke zu betrachten, sondern um zu sehen, was es Neues gibt, um sofort, jedenfalls früher als die andern (eine Perversion des Rechts am geistigen Eigentum!), darüber schwätzen zu können. „Nanu, Sie kennen X noch nicht?!“ Das ist ein gesellschaftliches und oft auch berufliches Todesurteil.“

Eisenreichs Kritik ähnelt dem Spott, der den Hipstern von heute entgegegen gebracht wird: Sie pflegen das Originell-Sein wie ein antrainiertes Hobby, instagramieren ihren Matcha-Latte, gehen zu den Lesungen veganer Kochbuchautorinnen, nippen Wodka Tonic auf den Vernissagen befreundeter Konzeptkünstler und wollen ständig nach New York. Aber ob sie all das aus aufrichtigem Interesse tun? Man hat beim Hipster häufig den Eindruck, er betreibe seine Aktivitäten nicht aus Spaß an der Sache, sondern nur ihrer Originalität wegen. Überhaupt ist der Hipster ja auch längst kein sonderbares Individuum mehr, sondern Mitglied einer großen Masse, der Hipstermasse. Damit ist er quasi Mainstream geworden – der Grund dafür, weshalb heute keiner mehr Hipster sein will. Hipsterness ist wie eine Krankheit oder ein Mundgeruch, den man höchstens noch naserümpfend bei den Leuten am Nebentisch feststellt. Aber man selbst ein Hipster? Auf keinen Fall! Man selbst ist schon viel weiter, man selbst ist originell.  

Genau da liegt der Fehler: Man versteht Originalität als Fortschrittlichkeit, aber wohin denn, um Gottes und der Kunst willen?“ fragt Herbert Eisenreich. Der selbstauferlegte Zwang, immer wieder mit etwas Neuem, Anderem als die anderen Leute um die Ecke kommen zu müssen, erzeugt eine Krampfhaftigkeit, einen richtigen Stress, der von wahrhaftiger Originalität nicht weiter entfernt sein könnte. Nicht alles, was neu ist, ist originell. Und um echt originell zu sein, muss man nicht unbedingt etwas total Abgefahrenes machen. „Nur derjenige Künstler beweist wahrhaft Originalität, der die Dinge der Welt, seiner konkret erfahrenen Welt, so unmittelbar und unvoreingenommen anschaut wie am ersten Tag“, schreibt Herbert Eisenreich. „So wiederholt er ja auch die Schöpfung.“

Gerade deshalb sind Kinder die eigentlichen und wahrscheinlich einzigen originellen Gestalten unserer Gesellschaft. Kinder betrachten die Welt ohne Urteil, ohne Spott und Skepsis. Sie erkennen in banalen Dingen aufregende Abenteuer. Erst neulich habe ich meine kleinen Cousinen beim Abendessen beobachtet. Ganz versunken spielten sie mit Messer und Gabel Hochzeit. Die Gabel trug einen weißen Schleier aus Papierserviette. 

Vielleicht wird Originalität aber auch ohnehin total überbewertet. Gestern stand ich in einer Umkleidekabine und probierte einen schwarzen Blazer an. Der Blazer hatte einen Bindegürtel, ähnlich wie bei einem Kimono. Ansonsten war er einfach ein schwarzer Blazer, der perfekt passte und sehr gut an mir aussah. Ich habe ihn nicht gekauft, weil ich dachte: Die 400 Euro sparst du für was Originelles. 

Aber Originalität kann man nicht kaufen. Originell sein heißt ein tiefgründiges Interesse an den Dingen zu haben, genau hinzuschauen, dort Qualität zu finden, wo andere nur ungeduldig nach dem bahnbrechend Neuem suchen. Originell, das kann ein gelber Pullover sein, ein schwarzer Blazer, ein Hobby wie Modellschiffe bauen oder Trampolin springen. Oder eine Barbie mit Wanderrucksack. 

Header-Bild: Jamie Hawkesworth für VOGUE UK