New York zieht uns alle an

SCHÖNE NEUE MODEWELT: DIE MELDUNGEN VON DER NY FASHION WEEK

060_AG17104Knallblau leuchtet der Frühabendhimmel über New York City. Weiße Wolkenstreifen spiegeln sich in den Glasfassaden von Downtown, blau schimmernde Scheiben brechen orangefarbenes Sonnenlicht. Langsam färbt sich der Freedom Tower hellviolett, dann korallrot, wie winzige Sterne funkeln jetzt die Lichter im höchsten Haus der nördlichen Erdhalbkugel, an dessen Stelle vor 14 Jahren die Türme des World Trade Center zusammenstürzten. Ist es wirklich der richtige Abend für eine Modenschau? 

Und ob. 

Zum ersten Mal zeigte das französische Modehaus Givenchy am vergangenen Freitag, dem 11. September 2015, seine Kollektion in New York. Dass es keine normale Show werden würde, war abzusehen: Wer mal eben den Traditionsstandort Paris hinter sich lässt, um an neuen Ufern alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, muss schon mit etwas mehr als einem gewöhnlichen Défilé aufwarten. Zugleich hat der europäische Gast Respekt vor den Bewohnern der Stadt zu bekunden, die an diesem Tag trauern, auch wenn Modewoche ist. 

Wie macht man das? 027_AG23638

Gewusst wie. Riccardo Tisci, Chefdesigner von Givenchy, ist eben weit mehr als nur Könner seines Fachs. Ein Philosoph zum Beispiel. Tatsächlich schien die Mode an diesem Abend einer von vielen wichtigen Akteuren, aber längst nicht der Mittelpunkt des Geschehens zu sein. Vor der strahlenden Kulisse des neuen World Trade Centers ließ Marina Abramovic Figuren mit Baumästen und Leitern rituelle Bewegungen ausführen. Drumherum Zuschauertribünen aus Holzpaletten, darüber dieser knallblaue Himmel, die changierenden Farben, dahinter der Hudson River, die sinkende Abendsonne – und erst dann, als es längst dunkel war, der Auftritt der Models in Givenchys neuen Kleidern. Das Zusammenspiel von Naturgewalt, Architektur, Kunst und eleganten Kleidern ließ die Szenerie surreal schön wirken. 

Leider war ich nicht dabei, aber sogar vom Computerbildschirm aus fand ich das Spektakel elektrisierend. Besser kann man es den Terroristen nicht zeigen: Schaut mal, wir sind am Leben! Es geht weiter, wir schauen nach vorn. Dafür ist die Mode schließlich auch da: den Blick der Welt vom Bösen auf das Gute, vom Düsteren auf das Strahlende zu richten. Schönheit kann so mächtig sein, das schien die Botschaft dieses Givenchy-Festes zu sein. Das Hässliche hat keine Chance. Givenchy Details

Tiscis Kleider lassen Frauen sinnlich und geheimnisvoll zugleich aussehen. Man glaubt diese Givenchy-Frau zu kennen, ihre Erotik, ihre Stärke, und doch ist immer etwas Rätselhaftes dabei, – die Mules mit korsettähnlich geschnürtem Schaft, die drapierte Gardinenspitze zur schwarzen Smokinghose – das man nicht gleich versteht. Zugleich wirken die Kleider modern und tragbar, sie lösen Begehren aus, weil man so etwas noch nicht im Kleiderschrank hat. Vielleicht hat Givenchy insgeheim schon immer viel besser zum Image des Big Apple gepasst. Paris ist die Stadt der ehrwürdigen Traditionen. In New York geht es immer um das Vorwärts, um das Höher, Weiter, Schöner, Besser. Das kann man hektisch und oberflächlich finden, oder elektrisierend und aufregend. „Neue Kleider sind wie eine Hand, die sich mir aus dem Faltenwurf der kommenden Zeit entgegenstreckt“, habe ich neulich in der Modeausgabe des ZEITmagazins gelesen. „Du berührst ein Stück Stoff und berührst damit ein zukünftiges Ereignis, ein zukünftiges Leben. Neue Kleider sind der greifbare Zipfel der Zukunft.“ 

Diese Zeile hat mir gefallen. Die Mode gibt uns Anregungen dafür, wer wir einmal sein könnten. Rotzig oder sanft? Sinnlich oder scharf? Streng oder verspielt? Es gibt viele Frauen auf der Welt, und alle brauchen was zum Anziehen. In New York, wo in dieser Woche mehr Bekleidungsvariationen denn je gezeigt werden, könnte jede von ihnen fündig werden. Und dabei reicht es oft, die Mode auf den Laufstegen erstmal nur als Inspiration zu betrachten. Ein Spitzen-Négligé zur schwarzen Anzughose (Givenchy)! Batikkleider mit seitlich aufspringender Knopfleiste (Altuzarra)! Ein Batikmantel aus hellblauem Denim (Thakoon)! Eine Stricklatzhose mit schief darüber gezogenem Männerhemd (Baja East)! Ein Strampler aus orangefarbenem Strick (Edun)! Zerfranste Jeans-Shorts über gestreiften Höschen! Käppi, Ledergürtel, Streifenhose! Militärjacken mit Lederfransen! Pyjamahemden zu Trekking-Sandalen (Alexander Wang)! Eine bunte Disco-Kugel als Hosenanzug! Ein Bikini-Top überm Streifenhemd! Ein Glitzertop zum Jute-Rock (Rosie Assoulin)! Weiße Spitze zum weißen Blazer! Weiße Spitze zu Karos (Wes Gordon)! Karos in Grün, Lila, Dunkelrot, Karos mit Surferprint und Lotusblütenmuster (Victoria Beckham)! 

Was man aus diesen vielen aufregenden Ideen alles machen kann, geht über den Rahmen der Fashion Week weit hinaus. Und bei Prabal Gurung gab es sogar noch einen unvergesslichen Modemoment, ähnlich wie bei Givenchy: Zu Anfang der Show traten dreißig nepalesische Mönche in leuchtendem Orange vors Publikum, um sich für die Spenden des Designers für die Erdbebenopfer vom 25. April 2015 zu bedanken. Anschließend zeigten die Models Kleider im gleichen sonnigen Orangeton. Mode kann heute viele Botschaften vermitteln. Es geht nicht immer nur ums Kleiderverkaufen.

Alle Bilder über VOGUE Runway.

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