Erinnert sich noch einer an den Jugendroman „Herr der Diebe“ von Cornelia Funke? Das Buch spielt in Venedig, es geht um eine Bande von Kindern, die in einem alten Kino wohnen, und um ein verzaubertes Holzkarussell. Wer auf diesem Karussell fährt, wird mit jeder Umdrehung im Zeitraffer erwachsen. Ein Kindheitstraum.
Wie jedes Kind wollte auch ich als kleines Mädchen immer erwachsen sein. Ich spielte mit meinen Puppen Kleinfamilie, probierte die hochhackigen Schuhe und Cocktailkleider meiner Mutter an und klaute Lippenstift und Lidschatten aus ihrem Badezimmerschrank. Erwachsen sein ist die Sehnsucht aller Kinder. Egal ob sie gerade Pirat auf hoher See spielen oder sich in ihrer Puppenküche als Restaurantbetreiber ausgeben – letztlich geht es immer um den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Aber wir kennen das alte Dilemma: Was man will, das hat man nicht, und was man hat, das will man nicht. Bis 20 freut man sich darüber, für älter gehalten zu werden. Dann schlägt die Stimmung um: wird man jetzt beim Alkoholkauf nicht mehr nach dem Ausweis gefragt, ist man beleidigt. Ist die Mode Schuld? Schließlich gilt die Jugend als ihr höchstes Ideal. In der Modewelt fährt das Karussell rückwärts: Hier gilt all das als schön, was straff, zierlich, faltenfrei und dabei flott und verführerisch ist. Sehr viel von dem, was heute auf den Laufstegen gezeigt wird, scheint für Zwanzigjährige gemacht, selbst wenn die es sich oft gar nicht leisten können. So kommt es, dass man in Paris oder New York manchmal wohlhabende dicke Frauen jenseits der 60 im Spitzenmini von Valentino antrifft, die glauben, Jugend könne man kaufen. Das geht natürlich nicht.
Nun lässt sich in letzter Zeit eine neue Tendenz beobachten. Die Jugend ist nicht mehr das einzige Ideal der Mode. Die Kindheit ist es. Bei Miu Miu gibt es in diesem Winter babyblaue Rüschenblusen zu kaufen, bei Prada rosa Babydollkleider, bei Gucci Blusen mit Schleifen und Blumenbroschen, bei Dolce & Gabbana Kleider mit echten Kinderzeichnungen. Es ist keine Mode, die im klassischen Sinne jugendlich, also cool und sexy macht. Es ist die Unschuld vom Laufsteg.
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Wollen moderne Frauen heute so aussehen? Ist niedlich das neue cool? Schaut man sich die Mode der russisch-belgischen Designerin Natalia Alaverdian an, die seit 2012 ihr eigenes Label A.W.A.K.E. führt, merkt man, dass es doch etwas komplizierter ist. Ihre Kleider sind nicht dazu gedacht, Frauen wie Kinder aussehen zu lassen, sondern ihnen eine Eleganz zu verleihen, die keinen Stock im Arsch trägt. Alaverdian kombiniert feminine, erwachsene Silhouetten mit japanischen Comic-Prints, drapierten Stoffblüten, flatternden Volants und mädchenhaften Vichy-Mustern. Die Pelzmäntel sind rosa und die Cocktailkleider rubinrot wie das Prinzessinnenkleid, das mir meine Eltern 1999 zu Weihnachten schenkten. Ich erinnere mich noch genau daran, einige Wochen lang trug ich nichts anderes. Alaverdians Kleider haben etwas von dieser natürlichen Grazie und Leichtfüßigkeit, die Kinder ganz selbstverständlich in sich tragen.
Das Ideal der wilden Jugend verkörpern heute Marken wie Saint Laurent, bei denen Frau als hagerer Party-Junkie mit entblößtem Oberkörper und Netzstrumpfhose daher kommt. Das soll wohl cool sein. Ist es aber nicht: Wer will schon so aussehen wie ein Teenager? Diese verunsicherten, kopflosen Wesen, bei denen Körper und Geist gerade eine riesige Baustelle sind? Jugend ist aufregend, aber optisch nicht unbedingt eine Inspiration.
Kinder haben dagegen den entscheidenden Vorteil, dass sie sich beim Anziehen nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie sie auf andere Leute wirken. Darin ähneln sie ausgewachsenen Stilikonen jenseits der 30, die endlich wissen, was ihnen steht: nämlich ausschließlich das, worin sie sich wohl fühlen und das ihnen persönlich gefällt. Kinder sind genauso. Zwar können sie schon sehr früh ein Modebewusstsein entwickeln – ich persönlich erinnere mich an dramatische Szenen und lautes Geschrei beim saisonalen Einkauf in der Kinderboutique. Aber anziehen tun sie eben auch nur, was sie selbst schön finden, nicht, was ihnen ein neunmalkluges Hochglanzmagazin ans Herz gelegt hat. In diesem Sinne sind sie die idealen Vorbilder für die Modewelt von heute, in der es längst nicht mehr um Trends geht, sondern um Individualität.
Dieses Motto spiegeln auch die Kleider von A.W.A.K.E. wider. Und dabei ist Natalia Alaverdian aktuell nur eine von vielen jungen Designerinnen, die Mode für das Kind in der Frau machen: Vika Gazinskaya entwirft noble Wollmäntel in Marshmallowfarben, Jacquardroben mit Erdbeerprint und A-Linienröcke mit Schneeflockenmuster. Bei Vivetta gibt es weiße Blusen mit Frauengesichtern und softeisfarbene Pelzmäntel zu sehen. Erich Kästner hat einmal gesagt: Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch. Diese Entwürfe sind dafür der kleidsamste Beweis.
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A.W.A.K.E. gibt es zum Beispiel online bei The Sprezzatura, Matches Fashion, Browns und Harrods zu kaufen.