Was plappere ich da?

REDEN IST PAPPE: EIN PLÄDOYER GEGEN DEN SMALLTALK

breakfast-tiffanys-party3[1]Ein Donnerstag im Oktober, Berlin, Ortszeit 13 Uhr. Ich habe einen Termin in einem Restaurant am Gendarmenmarkt. Business Lunch mit den PR-Damen eines Uhrenherstellers. Eigentlich mag ich diese Art von Verabredung nicht besonders, weil ich es schwierig finde, beim Essen über „Projekte“ zu sprechen, ohne meinem Gegenüber dabei versehentlich Krümel und Salatdressing ins Gesicht zu speien. „Du hast Probleme,“ sagt mein Mitbewohner dazu. „Immerhin darfst du umsonst Mittag essen!“

Wie üblich bin ich spät dran. Draußen schüttet es, nein, es stürmt, eiskalter Regen peitscht mir ins Gesicht, als ich mich auf mein eigentlich nicht mehr fahrtüchtiges Fahrrad schwinge. Meine Fingerknöchel werden schon lila, die Frisur ist längst im Eimer.

Durchnässt, knallrot und vom Winde verweht betrete ich das Restaurant und fange wie erwartet sofort an zu schwitzen. „Sie wünschen?“ fragt ein Kellner von links, seine Höflichkeit wirkt gespielt, offensichtlich hält er mich für einen Eindringling in diesem Etablissement, das mittags um 13 Uhr eigentlich als Schnitzel-Treffpunkt hochrangiger Politiker und Journalisten gilt. „Ich bin verabredet“, sage ich und entdecke im selben Moment die anderen Teilnehmerinnen meines Business Lunchs. Im Gehen ziehe ich meinen Schal und meine Jacke aus, in der Hoffnung, meine Hitzewallungen kurzfristig in den Griff zu bekommen.

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„Guten Tag“, begrüße ich die Damen stürmisch, sie erheben sich gleichzeitig und schütteln mir die Hand. „Ich bin Claire“, sage ich nicht so schlau. Und dann:„Puh!“ Das sage ich immer, wenn mir nichts einfällt. Was jetzt? Duzen oder siezen? Mit „Ich bin Claire“ habe ich automatisch das Du angeboten, obwohl die Damen bestimmt 15 Jahre älter sind als ich. Ich versuche mich zu erinnern, kenne ich die eine nicht, wir haben uns doch bestimmt schon mal geduzt… In Berlin siezt sich ja eigentlich keiner, weder auf dem Wochenmarkt noch in der Medienbranche. Aber die beiden kommen aus Frankfurt und vertreiben obendrein Armbanduhren, da könnte das Du unpassend sein.

„Ah ja, dieses Wetter“, sagt die erste und mustert mein tropfendes Gesicht. „Ich hätte nicht Fahrrad fahren sollen“, sage ich und grinse verschmitzt. „Nächstes Mal wieder Taxi!“ Ich fahre nie Taxi. Um uns herum sitzen nur Leute in Schlips und Nadelstreifen. „Ich bin auch ganz zerzaust…“ Armseliger Versuch von falscher Bescheidenheit. „Ach, gar nicht“, sagt die zweite und lächelt. In unserer Business-Lunch-Runde fehlen noch zwei, solange die nicht da sind, können wir nicht mit dem Business anfangen. Die Damen lächeln und ich lächle und dann fällt uns nichts mehr ein.

Jetzt wäre es an der Zeit, ein unverfängliches, nicht klischeehaftes Gespräch über unterhaltsame Nichtigkeiten anzufangen. Es soll Leute geben, die so etwas können. Ich kann das nicht. Nicht, dass ich auf den Mund gefallen wäre, im Gegenteil. Meine Freunde wissen mittlerweile, dass man mir gelegentlich eine Sendepause auferlegen muss, weil ich sonst nicht zu plappern aufhöre. Aber mit meinen Freunden muss ich auch nicht übers Wetter reden. Mit dem Smalltalk ist es bei mir wie mit der Physik: wenn ich wollte, könnte ich wahrscheinlich. Aber ich will nicht. Ich hasse Smalltalk.

„Wie ist Frankfurt denn so?“ frage ich dumm, weil mir nichts Besseres einfällt, aber leider fällt den beiden auch nicht groß was dazu ein, ist ja klar, wenn mich einer fragen würde, wie Berlin denn so ist, wüsste ich auch nicht, was ich sagen soll. Jedenfalls kommt nicht viel zurück, und die Damen machen auch keine Anstalten, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Sollen wir jetzt schweigen oder wie?

„Mein Vater hat auch eine Uhr von Ihnen“, sage ich und gucke vielsagend. „Ach ja?“ sagt Dame 1 interessiert, „welches Modell denn?“ Welches Modell? Keine Ahnung welches Modell! Ich habe keine Ahnung von Uhren. „Wissen Sie, ich habe eigentlich keine Ahnung von Uhren“, sage ich und beeile mich entschuldigend zu lächeln. „Auf jeden Fall ist sie sehr schön. Ich habe leider selbst keine Uhr, weil, wissen Sie, ich mache mir nichts aus Uhren…also, ich meine, ich wette, wenn ich erstmal eine hätte, würde ich mich bestimmt ganz nackt ohne sie fühlen. Ich würde sie gar nicht mehr abnehmen. Außer zum Duschen natürlich!“ Was plappere ich da?

Pause. Wer nimmt wohl als erstes ein Stück Brot aus dem Brotkorb? Ich erlaube mir die Kühnheit und greife zu. Die Damen lächeln immer noch. Vielleicht wollen die gar nicht reden?

Smalltalk gilt heute als eine Schlüsselqualifikation des Berufslebens. Die allermeisten Berufe basieren auf Kommunikation. Wer nicht reden kann, kann nichts verkaufen, weder sich selbst noch seine Leistung. Das gilt für Ärzte, Juristen, Unternehmer, Journalisten, Professoren, PR-Agenten, Models und Wurstverkäufer gleichermaßen, wie auch die wachsende Zahl an schlauer Fachliteratur auf dem Ratgebermarkt belegt. Die jüngste Neuerscheinung: „Smalltalk – Die Kunst des stilvollen Mitredens“ von Alexander von Schönburg.

Woher kommt eigentlich dieser ständige Zwang, immer mit allen reden und vor allem immer mitreden zu müssen?

Smalltalk bezeichnet die verordnete Unterhaltung mit Fremden oder flüchtigen Bekannten. Mit Freunden oder Familie muss man keinen Smalltalk führen, denn mit denen redet man ja freiwillig, weil man sie kennt und gern hat. Bei fremden Leuten ist das etwas anderes, denn jede Bekanntschaft beginnt zwangsläufig mit vorsichtigem Beschnüffeln. Menschen sind anders als Hunde: Die schnuppern sich bei der ersten Begegnung gleich am Hinterteil herum, während Menschen verzweifelt nach Themen suchen, die bloß nichts mit ihnen selbst zu tun haben. Deshalb ist beim Smalltalk auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ auch niemals mit einer ehrlichen Antwort zu rechnen. „Danke der Nachfrage, ich bin heute in unerklärlich melancholischer Stimmung, das Pastrami-Sandwich vom Mittagessen liegt mir irgendwie noch quer im Magen, vorhin habe ich das dritte Paar Schuhe in dieser Woche bei Net A Porter bestellt, insgeheim bin ich nämlich einkaufssüchtig, und ach ja, meine Tage habe ich auch noch, aber ansonsten geht es mir gut, und Ihnen so?“ wird man beim Smalltalk nie zu hören bekommen.

Schade eigentlich. Ich habe festgestellt, dass das eigentliche Problem des Smalltalks in seinem ständigen Gebot zur Diskretion liegt. Von klein auf wird uns ein taktvolles Schamgefühl antrainiert, das uns daran hindern soll, auf der Straße die Unterhose zu wechseln oder beim Business Lunch über Beziehungsprobleme zu plaudern. Man tut dies zum Schutz der eigenen Intimsphäre, aber auch, um andere nicht in Verlegenheit zu bringen.

So weit, so gut. Beim Smalltalk empfinde ich das ständige Schamgefühl allerdings als reichlich hinderlich. Ich bin ein ehrlicher Mensch und habe keine Lust, mich mit irgendwem, ob Fremdem oder bestem Freund, über heiteren Blödsinn zu unterhalten. So kommt es, dass ich die langweiligen Smalltalkthemen in der Regel überspringe und gleich mit dem schweren Gesprächsstoff oder gar persönlichen Geschichten loslege, die wildfremde Leute laut ungeschriebenem Smalltalk-Gesetz überhaupt nichts angehen. Neulich auf der Friedrichstraße kommt mir Bekannte L. entgehen, wir haben uns mal flüchtig auf einer Party kennen gelernt. „Na, was machst Du grad?“, fragt sie mich, und ich so, ganz arglos: „Ach, ich geh‘ mir nur schnell die Pille kaufen.“

Das passiert mir immer wieder: Ich soll Smalltalk halten und liefere stattdessen too much information. Das ist nicht besonders taktvoll, aber menschlich: in der New York Times habe ich gelesen, dass Leute, die öfter über persönliche Befindlichkeiten und den Sinn des Lebens sprechen, glücklicher sind als solche, die vor allem Smalltalk führen. Zitiert wird ein Dr. Mehl von der University of Arizona: „Substantive conversation seems to hold the key to happiness for two main reasons: both because human beings are driven to find and create meaning in their lives, and because we are social animals who want and need to connect with other people.“

Genau darin liegt für mich das Problem der Plauderei: in der fehlenden connection. Beim Smalltalk baut man sich eine Fassade aus Floskeln und unverfänglichen Meinungen auf. Vermutlich ein steinzeitlicher Schutzmechanismus – schließlich ist nur verletzlich, wer sein Innerstes preisgibt. Doch dieser Schutzwall schirmt uns auch vor spannenden, erfüllenden Konversationen ab.

Im Idealfall könnte Smalltalk als Aufwärmprogramm zu guten Gesprächen hinführen. Tut es aber selten: selbst längere Gespräche mit Unbekannten kratzen meist kaum an der Oberfläche. Manchmal deshalb, weil man sich selbst verstellt und für die Dauer des Abends eine gut verdauliche Meinung zu bestimmten Gesprächsthemen vertritt, um sich das Leben leichter zu machen. Manchmal aber auch, weil der oder die Gegenüber einfach zu faul für ein tiefsinniges Gespräch ist. Neulich traf ich in einer Boutique eine Bekannte, die dort arbeitet. Während ich an der Kasse stand, unterhielten wir uns über den neuesten Klatsch von der Pariser Modewoche, und ich kam auf das Thema Streetstyle zu sprechen. Ihre Sichtweise interessierte mich. „Findest du nicht auch“, zitierte ich aus meinem Artikel,“dass der Streetstyle bei den Fashion Weeks gar nichts mehr mit Stil zu tun hat?“ Sie starrte mich einen Moment lang verwirrt an, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Weißt du, Claire, das interessiert mich überhaupt nicht.“

An die wenigen Situationen, in denen aus Smalltalk ein bewegendes Gespräch wurde und ich anschließend beflügelt und inspiriert nach Hause ging, kann ich mich noch genau erinnern. Ein Presse-Event eines Onlineshops für Unterwäsche im Soho House. Ich hatte vorher mit dem Schlimmsten, nämlich ausschließlich oberflächlicher Plauderei über Spitzenunterhosen und die Berliner Modebloggerszene gerechnet.

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Stattdessen verfiel ich nach kurzer Zeit in eine angeregte Diskussion mit der PR-Dame, die aus New York kam und offenbar meine Seelenverwandte war. Am Ende sprachen wir über Einsamkeit in der Großstadt, unsere Angst, als Karrierefrauen kein Anrecht auf eine glückliche Beziehung zu haben, die besten Lektionen unserer Mütter und die ewige Suche nach Zufriedenheit. Ich ging nach Hause mit dem Gefühl, eine gute Verbündete mehr gewonnen zu haben.

Warum fürchten wir uns so sehr vor diesem Bündnis mit Fremden? Alle meine guten Freundschaften sind aus Gesprächen entstanden, die schon bei der ersten Begegnung die Diskretionsgesetze des Smalltalks hinter sich ließen und die Konversation auf die Beteiligten selbst richteten. Ich habe festgestellt, dass man viel mehr gewinnt, wenn man aufs vermeintliche Glatteis tritt und von sich selbst erzählt, von seinen Interessen, Zweifeln und Schwächen, als wenn man immer nur im Trockenen, nämlich auf der unverfänglichen Smalltalk-Ebene bleibt. Dr. Mehl sieht das genauso. Er empfiehlt zur Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens „one extra substantive conversation every day“. 

Nur was, wenn man keinen geeigneten Gesprächspartner für tiefsinnigen Anti-Smalltalk findet? Wenn das Mädchen in der Modeboutique keine Lust auf eine intelligente Diskussion hat und die PR-Damen beim Business Lunch immer nur freundlich lächeln wollen?

Naja. Herumstehen und gar nichts sagen ist manchmal auch nicht so schlimm. Reden ist Pappe, Schweigen ist Gold, und besser als jeder Smalltalk ist: Einfach mal die Klappe halten.

Headerbild aus „Breakfast at Tiffany’s“