Ist es nicht komisch, dass man in der Schule alles Mögliche beigebracht bekommt, nur nicht, wie man sich ordentlich anzieht? Ich habe neulich darüber nachgedacht, als ich morgens um halb 8 in Unterhose vor meinem Kleiderschrank stand, schlotternd vor Kälte, weil ich nicht wusste, was ich anziehen sollte. Ich finde, guter Stil ist eine Wissenschaft für sich. Warum vermittelt die Schule nicht wenigstens die Grundlagen? Es ist ja nun nicht gerade so, dass die Lehrpläne nur so vor überlebenswichtigen Themen strotzen, die unbedingt Vorrang brauchen. Ich habe in der Schule gelernt, wie man Blockflöte spielt und einen Webrahmen bedient, ich habe ungefähr 5 Millionen Lateinvokabeln gelernt, von denen ich nur eine in Erinnerung behalten habe, nämlich pes, pedis m., der Fuß, wieso ausgerechnet diese ist mir ein Rätsel. Ich habe gelernt, was eine Sinuskurve ist, wie man rausbekommt, was x ist, und wie man dividiert, ohne einen Taschenrechner zu benutzen.
Ich bin gern in die Schule gegangen, und ich glaube, dass die ganze Lernerei von Sachen, die man 5 Minuten nach der Abiturklausur wieder vergisst, ganz bestimmt irgendeinen Sinn und Zweck hat. Aber warum hat man zwischen all den Vokabeln und Kurven und Meiosen und potthässlichen Kunstprojekten vergessen, uns beizubringen, wie wir uns gut anziehen?
Dass die Schule in Sachen Lebensführungsaufklärung versagt hat, wird einem spätestens dann klar, wenn man zum ersten Mal seine Steuererklärung machen muss. Wobei die Steuererklärung ja noch zu den Dingen gehört, für die man einen Berater aufsuchen kann. Die Suche nach gutem Stil ist dagegen Teil der ohnehin komplizierten Persönlichkeitsentwicklung: Wer bin ich, was ist mein Standpunkt? Darüber kann die Mode, die ich trage, viel mehr Auskunft geben, als manch Physiklehrer glauben mag. Wer seinen Stil gefunden hat, fühlt sich wohl in seiner Haut und kann Selbstbewusstsein zeigen. Wer weiß, was man zu welchem Anlass anzieht, beherrscht die essentielle Kunst des guten Auftritts, und zwar im beruflichen wie im gesellschaftlichen Leben. Und das Anziehen selbst ist ohnehin eine Kunst für sich. Wie proportioniere ich mein Outfit? Warum ist es interessanter, zu kurzen Kleidern flache Schuhe zu tragen? Was kann man mit Kniestrümpfen anstellen? Wie trage ich drei Rottöne in einem Outfit? Und wie kann ich einen bestickten, 2000 Euro teuren Blazer preiswert selber machen?
Ich habe mit 14 angefangen, die Vogue zu lesen. Anfangs klaute ich die Ausgaben noch aus dem Wartezimmer meines Zahnarztes. Später schleppte ich das Magazin wie ein schickes Accessoire durch die Gegend. Die Art und Weise, wie die Mode in der Vogue ganz selbstverständlich als Hochkultur vermittelt wurde, faszinierte mich. Ich bewunderte die raffiniert zusammen gewürfelten Kleider an den Models, entschlüsselte das Geheimnis ihrer perfekten Outfits. Ich lernte Mode, wie andere Cello oder Tennis spielen lernen.
Heute lese ich monatlich die britische Vogue. Wer Modemagazine für triviale Werbekataloge hält, liegt falsch. Modemagazine leisten das, was die Schule versäumt: Sie sind Betriebsanleitungen für guten Stil.
Und ich lerne immer noch. Ich habe tolle Kleider im Schrank, aber allzu oft stehe ich morgens um halb 8, schlotternd vor Kälte, vorm Kleiderschrank und habe keine Ahnung, was ich aus all den schönen Sachen zaubern soll. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die Schule gar nicht erst versucht hat, es mir beizubringen: es gibt keine Regeln für guten Stil, die man befolgen könnte, und schwupps, schon ist man toll angezogen. Aber so wie es in der Architektur den goldenen Schnitt gibt, kennt die Mode ein paar Handgriffe und Tricks für originelle Outfits, in denen man sich wie neugeboren fühlt. Wie proportioniere ich mein Outfit? Warum ist es interessanter, zu kurzen Kleidern flache Schuhe zu tragen? Was kann man mit Kniestrümpfen anstellen? Wie trage ich drei Rottöne in einem Outfit? So etwas lernt man nur in einem Hochglanzmagazin. In diesem Sinne: Herzlich Willkommen zum Mode-Unterricht. Hefte raus, Bleistifte gespitzt, los geht’s.
Lektion #1: Ein feines Nachthemd kostet viel Geld. Allein deshalb sollte man es auf keinen Fall nur unter der Bettdecke verstecken. Unter einem schwarzen Slip-Kleid getragen macht es sich genauso gut. Das Kleidchen sollte schlicht, aber kurz genug sein, um die Spitzensäume sichtbar zu machen. Dazu unbedingt auf High Heels verzichten und stattdessen mit Lackschuhen und Söckchen entschärfen.
Auf den Spickzettel: Die Investition in ein gutes Nachthemd lohnt sich. Man weiß nie, wofür man es noch brauchen wird.
Gelernt von: Asta Stensson im Contributor Magazine, gestylt von Amanda Johansson, fotografiert von Nina Andersson.
Lehrmaterial: Schwarzes Slip-Kleid von Raey, Spitzen-Nachthemd von Dolce & Gabbana, Söckchen von & Other Stories, Lackschuhe von Camilla Elphick
Lektion #2: Hier ist alles durcheinander und trotzdem harmonisch wie eine Mozart-Sinfonie. Ein maskulines Hemd macht das mädchenhafte rote Kleid erwachsen, die Kniestrümpfe passen proportional gut, weil der Rocksaum eine Handbreit überm Knie liegt, die Pumps wirken mit Schnallendetail und maßvoller Höhe eher schrullig als sexy, was diesem Look sehr zugute kommt. Handtasche und Schuhe haben zwar einen anderen Rotton als das Kleid, harmonieren dafür aber untereinander. Das Halstuch ist ein Kunststück für Fortgeschrittene. Es sollte nicht perfekt zum restlichen Outfit passen, allerdings auch nicht gewollt unstimmig aussehen. Grün zu Blau und Rot ist auf jeden Fall eine gute Idee. Der provisorisch-lässige Sofa-Überwurf übrigens auch.
Auf den Spickzettel: Knie-strümp-fe! Knie-strümp-fe! Knie-strümp-fe!
Vorbild: Isabeli Fontana in der Vogue Brasil, gestylt von Pedro Sales, fotografiert von Zee Nunes.
Lehrmaterial: Rotes Kleid von Maje, Seidentuch von Virginie Castaway, Pumps von Miu Miu, Kniestrümpfe von Falke, Lederhandtasche und blaues Hemd von & Other StoriesLektion #3: Der lederne Minirock könnte vulgär aussehen und braucht deshalb gemäßigte Begleitung, also etwas so Unschuldiges wie einen geringelten Rollkragenpullover. In jedem Fall etwas ohne Ausschnitt. Die weißen Kniestrümpfe passen zum Minirock, solange die Schuhe dazu flach bleiben. High Heels zu Overknee-Strümpfen sind prinzipiell zu vermeiden. Es besteht sonst Verdacht auf Käuflichkeit.
Auf den Spickzettel: Beim nächsten Bad-Hair-Day einfach den Rollkragen über den Kopf ziehen.
Vorbild: Stella Lucia im Jalouse Magazin, gestylt von Marie Gibert, fotografiert von Piczo.
Lehrmaterial: Ringelpullover von Emilio Pucci, Lederrock von The Kooples, Kniestrümpfe von Falke, Schuhe von TopshopLektion #4: Nur weil November ist, muss das Spaghettikleid nicht in die hinterste Schrankecke. Man kann auch ein hochgeknöpftes weißes Hemd darunter tragen. Das Kleid sollte nicht ganz schlicht sein, sondern zum Beispiel einen Schlitz oder Plisseefalten oder beides haben. Dazu passt ein Paar gewitzter Schuhe, sie brechen die architektonische Strenge.
Auf den Spickzettel: Hemd unterm Spaghettikleid geht gut, solange das Kleid mindestens knielang und nicht knalleng geschnitten ist.
Vorbild: Marland Backus in der Vogue Italia, gestylt von Marie Chaix, fotografiert von Roe Ethridge.
Lehrmaterial: Kleid von Marni, weiße Bluse von Alexander Wang, Pumps mit Fellpuscheln von FendiLektion #5: Auch von Männern kann man lernen! Mit heiter bedrucktem Pullover und goldfarbenen, spitz zulaufenden Rock’n’Roll-Boots schicken wir den strengen Unternehmensberater-Nadelstreifenanzug in den wohlverdienten Feierabend.
Auf den Spickzettel: Sind goldene Schuhe im Spiel, ist auf weitere Accessoires besser zu verzichten.
Vorbild: T Magazine Men’s Style Issue, gestylt von Jason Rider, fotografiert Arno Frugier.
Lehrmaterial: Hosenanzug von Dolce & Gabbana, Pullover von Issa, goldene Boots von Kat MaconieLektion #6: Dreimal rot funktioniert hervorragend, solange sich die Darsteller in den Nebenrollen zurückhalten. Zum roten Hosenanzug passen spitze, nicht zu hohe Großmutterpumps, die schwarze Kappe bricht die logische Harmonie von Rot und Beige. Das Handtäschchen wirkt im Kontrast zur strengen Anzug-Silhouette charmant.
Auf den Spickzettel: Keine Angst vor Stirnbändern!
Vorbild: Isabeli Fontana in der Vogue Brasil, gestylt von Pedro Sales, fotografiert von Zee Nunes.
Lehrmaterial: Rote Jacke von Isabel Marant Étoile, rote Hose von Bobby Kolade, Stirnband von Chanel, Pumps von Chanel, Strickpullover von & Other Stories, Handtasche von Liberty of LondonLektion #7: Die Anzugweste hat, wohl ihrer nahen Verwandtschaft zu Krawattennadel und Taschenuhr wegen, im Kleiderschrank den Ruf des Kleinbürgers. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Weste allzu häufig in eine Rolle gezwungen wurde, in der sie sich einfach nicht wohl fühlt: die Lässigkeit. Eine Weste verlangt nach dem vollen Programm. Hemd, Krawatte, Jacke. Das heißt nicht, dass man nicht geschickt experimentieren darf. Hier funktioniert das ganz hervorragend mit Bubikragen und Lederjacke statt Blazer.
Auf den Spickzettel: Beim nächsten Besuch heimlich die schwarze Krawatte aus Boyfriends Kleiderschrank klauen. (Trägt er eh nie.)
Vorbild: Lara Stone in L’Express Styles, gestylt von Mika Mizutani, fotografiert von Richard Bush.
Lehrmaterial: Weißes Hemd von J.W. Anderson, Lederjacke von Weekday, schwarze Weste von Dolce & Gabbana, Krawatte von TopmanLektion #8: Weiße Schuhe wirken ordinär, solange sie nicht gerade von J.W. Anderson sind oder zum Hochzeitskleid getragen werden. Oder zu dieser Nobelvariante des Clowns-Kostüms: zum gemusterten Hosenanzug mit gepunkteten Söckchen (die ein anderes Muster, aber keine andere Grundtönung als der Anzug haben sollten) sind sie die einzig richtige, weil unschlagbar coole Wahl.
Auf den Spickzettel: FINGERLOSE HANDSCHUHE KAUFEN! Karl Lagerfelds hat’s jetzt lang genug vorgelebt.
Vorbild: Katlin As in der Vogue Italia, gestylt von Arianne Phillips, fotografiert von Emma Summerton.
Lehrmaterial: Hosenanzug von Edun (sauteuer, kann man aber auch selbst machen: Bei genauerem Hinsehen erkennt man hier Knopfreihen auf Nadelstreifen, man braucht also nicht viel mehr als einen schönen Hosenanzug, einen Haufen Knöpfe, Nadel, Faden – und viiiiieeel Geduld). Socken von Yohji Yamamoto, Handschuhe und weiße Mules von & Other Stories