Habe ich Stil?

UND WENN NICHT: WO FINDE ICH IHN?

Bildschirmfoto 2016-01-18 um 7.16.39 PMSeit 18 Jahren ziehe ich mich selbst an, und bis heute weiß ich nicht, wie es geht. Ich weiß nicht, ob ich von mir behaupten kann, „Stil“ zu haben. Ich kaufe gerne ein, ich bin verrückt nach Mode. Aber ich finde es wahnsinnig schwierig, herauszufinden, welche Kleider wirklich zu meiner Persönlichkeit passen. Früher war das ja alles ganz einfach, denn als Kind weiß man instinktiv, was man will, nämlich meistens das Gegenteil von dem, was Mama will. Wahrscheinlich war ich früher furchtbar angezogen (weiße Strumpfhosen!), aber ich war dabei total überzeugt von meinen Outfits. Was ist seitdem passiert? Habe ich Stil? Und wenn nicht: wo finde ich ihn?

Letzte Woche war ich in Mailand bei der Männermodewoche, und natürlich werde ich nicht leugnen, dass ich zu dieser Veranstaltung besonders gut angezogen sein wollte. Da stehen ja immer die ganzen Fotografen rum. Als halbwegs eitler Mensch lässt einen das nicht kalt. Ich verbringe also einen halben Nachmittag damit, meine Modewochengarderobe zusammen zu stellen, und hinterher sehe ich mich auf den Fotos in diesen Kleidern und frage mich, wie es dazu kommen konnte. Nicht, dass ich furchtbar aussehe. Ich finde, ich sehe ganz gut aus (darf man schon mal sagen, falsche Bescheidenheit bringt ja auch keinem was), aber irgendwie verwirrt. Jedenfalls kommt es mir so vor, als wäre ich jeden Tag ein anderer Mensch. Tag Eins: Glamour-Lady im Vintage-Kleid von Leonard, in letzter Minute warf sie statt des Pelzmantels eine Bomberjacke über, um ja nicht auszusehen, als hätte sie länger als 30 Sekunden über ihr Outfit nachgedacht (unter uns: es waren dreißig Minuten). Tag Zwei: Business-Tussi in Rollkragen-Blazer-Uniform mit Bonbonhandtasche und Krokodilschuhen. Tag Drei: oben intellektuelle Avantgarde-Japanerin, unten Marlene Dietrich.

Ich weiß nicht, ob es an meinem Ordnungszwang liegt, aber irgendwie fehlt mir da die Struktur. Wenn man mich fragen würde, Frau Clairette, wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?, was sollte ich da wohl antworten? Ich bin eine Barbie, die kein Make-Up mag, ich besitze fünfmal so viele High Heels wie Turnschuhe, trage aber manchmal liebend gern Männerjeans zum Männerhemd, am nächsten Tag dann wieder ein geblümtes Rüschenkleid mit Overknees. Ich finde Vetements cool und Miu Miu bezaubernd, ich liebe Marques‘ Almeida, aber heimlich träume ich von einem Chanel-Kostüm.

Und ich soll Stil haben?

Es kommt nicht häufig vor, dass ich in einem Volltreffer-Outfit vor die Tür trete. Eigentlich stört mich fast immer irgendwas. Ich war nicht so richtig überzeugt von der Bomberjacke zum Kleid, aber ich hatte nichts anderes dabei. Den Blazer hätte ich lieber ohne den Rollkragenpullover angezogen, aber es war zu kalt. Und das neonfarbene Plissée-Top unter der Lederjacke erschien mir zu Hause vorm Spiegel wie ein Geniestreich. Dann sah ich mich in Mailand vor einer Schaufensterscheibe und dachte: Wie siehst du aus?

Ich unterhielt mich mit Scott Schuman vom Sartorialist. Ich fragte ihn, warum sich Männer immer noch weniger für Mode interessierten als Frauen. „Männern geht es eher um Zugehörigkeit zu einem bestimmten tribe, weniger darum, herauszustechen“, erklärte Scott. „Ein Mann fragt sich, wo er dazu gehört, und kleidet sich dann entsprechend. Zu den Musikern, zu den Skatern, zu den Dandys, Rockern oder Golfspielern. Männer interessieren sich weniger für Mode, eher für einen bestimmten Stil.“

Frauen lassen sich also jede Saison bereitwillig von den Designern umgestalten, während Männer sich ganz pragmatisch an einen Stil halten, sobald sie ihn gefunden haben. Klar, das macht es für uns Frauen schwieriger, zu wissen, wer wir sind und was wir wollen. Eben noch Miniröcke, jetzt plötzlich Baggyjeans – wer soll da noch den Überblick behalten?

Fest steht: Ich möchte nicht verkleidet aussehen, so wie eine Frau, die nicht weiß, wer sie ist. Ich möchte keine Kreatur sein wie Baddie Winkle, diese 87-Jährige Instagram-Omi, die in bauchfreien Tops und Regenbogenpelz herumläuft. Ich finde diese Frau lustig, aber stillos, denn in meinen Augen ist sie eine Kunstfigur.

Ich will aber auch nicht sein wie die Männer, die sich ein Leben lang wie ein Skater oder Golfspieler anziehen. Ist das nicht totlangweilig? Besteht nicht gerade der Spaß der Mode darin, dass sie einen jeden Tag in neue Rollen schlüpfen lässt?
Stil heißt nicht, zu wissen, dass man in einem blauen Trenchcoat und schwarzen Jeans toll aussieht, und deshalb nur noch in blauen Trenchcoats und schwarzen Jeans herumläuft. Vielleicht ist Stilgefühl dieses Kunststück, bei dem man mit traumwandlerischer Sicherheit aus einem Haufen verrückter neuer Kleider genau die herauspickt, die so aussehen, als hätten sie ein Leben lang auf einen gewartet. Bei dem Leonard-Kleid war das der Fall, bei der gelben Handtasche auch. Vielleicht sollte ich weniger selbstkritisch sein.

Genau das ist ja das Schöne an der Mode: es gibt kein richtig oder falsch, es ist alles eine Frage des guten Gefühls. Aus dem Ausprobieren, dem Trial and Error, entsteht etwas sehr Persönliches, etwas, das nur ich so anziehe. Es gibt keine Garantie dafür, dass ich darin auch tatsächlich gut aussehe. Aber solange ich weiß, was mir gefällt, solange ich nicht versuche, wie jemand anderes auszusehen und irgendwas anziehe, bloß weil ich  gehört habe, dass man dieses jetzt so trägt oder dass man jenes jetzt haben muss, ist Stil tatsächlich reine Geschmacksache.

Ich möchte zum Schluss noch von meiner Maman erzählen, die halte ich nämlich für eine Frau mit ausgeprägtem Stilgefühl. Maman liebt geblümte bunte Kleider, sie liebt ein schönes Dekolleté, sie trägt gerne 7/8-Jeans und dazu was in Dunkelblau. Sie hat ein erstaunlich treffsicheres Auge für Sachen, die ich nie angefasst hätte und im Nachhinein an ihr toll finde: ein himbeerrotes Rüschenkleid, ein tannengrüner Hosenanzug, weiße Korksandaletten. Nur einmal griff sie irgendwie daneben. In den Zeitschriften war gerade die Rede von den sogenannten Jodhpur-Hosen, und prompt kam Maman mit solchen Jodphur-Hosen in Türkisblau nach Hause. „Die sind total in“, sagte sie, aber überzeugt war sie nicht. Ich glaube, Maman hat diese Hosen nur zweimal getragen.

Die Looks aus Mailand: 
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Look 1: Bomberjacke von Sandro, Vintage-Kleid von Leonard (über Rianna in Berlin), Handtasche von J.W. Anderson, Loafer von Fratelli Rossetti.

Look 2: Rollkragenpullover von & Other Stories, Blazer von The Kooples, Jeans von Paul & Joe, Boots von Kenzo, Handtasche von Paula Cademartori.

Look 3: Top mit Plissée von Nike X Sacai, Lederjacke von Acne, Hose von 3.1. Phillip Lim.

Bilder über Vogue, A love is Blind, Le 21ème, W Magazine