Schreiben tut weh

WIE IST DAS, WENN MAN JUNG IST UND SCHREIBT? EIN GESPRÄCH MIT MERCEDES LAUENSTEIN, AUTORIN

Bildschirmfoto 2016-03-07 um 11.55.55 PMIch habe die Münchner Autorin Mercedes Lauenstein noch nie getroffen, aber von ihr gelesen, zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung und in der L’Officiel. Ein Buch gibt es auch schon von ihr, es heißt „Nachts“. Mercedes hat schon über fast alles Wichtige geschrieben: über das Internet, über Schönheitsoperationen, über Rastlosigkeit und Unterwäsche. Außerdem betreibt sie als Blanca Nero mit ihrem Freund das Splendido Magazin, auf dem ich mit großer Freude las, dass Mercedes Gerichte, die auf Bowl enden, genau so bekloppt findet wie ich. Überhaupt kommt es mir so vor, als seien wir uns ein bisschen ähnlich, lustig, denn wir kennen uns ja nicht! Aber wenn man ihre Texte liest, bekommt man schnell das Gefühl, Mercedes doch irgendwie schon mal getroffen zu haben, denn sie hat so eine Art, die Dinge klar und aufrichtig auf den Punkt zu bringen.

Ich finde das brillant. Deshalb war ich ganz erstaunt, als sie mir vor ein paar Tagen eine „Fanhymne“ per Email sang. „Bist Du nicht DIE Mercedes Lauenstein?“, fragte ich zurück und aus den gegenseitigen Komplimenten wurde ein spontanes Email-Ping-Pong über das Schreiben und die Angst vor der Bedeutungslosigkeit und die Suche nach den richtigen Wörtern. Hier, gleich nach diesem Absatz, kann man es jetzt nachlesen. Keine Sorge: Mercedes und ich halten uns nicht für zwei Sprach-Genies, die sich mal ganz dringend über das Leid des Genialseins auslassen mussten. Sondern für zwei junge Frauen, die sich in der Welt der Literatur und des Journalismus gerade so zurecht zu finden versuchen. Wie ist das eigentlich, wenn man mit Mitte 20 ein Buch schreibt? Was tut man am besten gegen Kreativblockaden? Darüber haben wir uns unterhalten. Für mich war es eine erleichternde Erkenntnis zu hören, dass es auch mit ausgeprägter Aufschieberitis sehr wohl möglich ist, ein ganzes Buch zustande zu bringen. Und dass ich tatsächlich nicht die Einzige bin, die manchmal gern den ganzen Tag aus dem Fenster schauen und sich selbst bemitleiden würde. 

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Claire: Ich wünschte, ich würde viel mehr auf dem Blog schreiben, überhaupt viel mehr schaffen und Ideen umsetzen, aber leider bin ich manchmal richtig faul und würde am liebsten den ganzen Tag aus dem Fenster schauen. Geht Dir das auch so? Wie verstehst Du Dich mit dem leeren weißen Blatt?

Mercedes: Mein persönlicher Umgang mit dem leeren Blatt: Kompliziert! Ich fühle mich einerseits irre faul und undiszipliniert, brauche sehr viel Zeit für mich und diese aus-dem-Fenster-Glotzmomente, die du auch beschreibst. Außerdem brauche ich extrem viel Schlaf. Und ich habe keine feste Tagesstruktur. Jeder Tag ist anders und ich bin saufroh, mittlerweile ganz frei zu sein und nicht mehr in eine Redaktion zu müssen. Pflichten und Aufgaben stressen mich, überhaupt aber stresst mich fast alles maßlos, weil ich nämlich neben meiner vermeintlichen Faulheit und Disziplinlosigkeit andererseits auch dauernervös, dauerangespannt und von einer irren Versagensangst gebeutelt bin. Ich leide also grundsätzlich an vielem und beim und vorm Schreiben besonders und schiebe es deshalb auch meist irre lang raus und schaffe in der Konsequenz viel weniger, als ich meinen eigenen Ansprüchen nach gerne schaffen würde. Anstrengend! Wahrscheinlich ist das ein klarer Fall von ganz normaler manischer Autoren- bzw. Künstlerstörung… Ich wünschte wirklich, ich wäre mehr die coole Sau, was das angeht, aber vielleicht stünde das ja dann auch meiner Art zu schreiben wieder entgegen? Oder ist das nur eine dumme Ausrede, um nicht an meiner Unleidlichkeit arbeiten zu müssen? Ich weiß es nicht.

Claire: Ach, ich verstehe gut, was du meinst. Meine Faulheit stresst mich total, gleichzeitig glaube ich, dass es wichtig ist, viel rumzusitzen und nachzudenken, anstatt die Kreativität zu erzwingen. Ian McEwan hat einmal gesagt: „Man braucht fürs Schreiben jede Menge Zeit zum Verschwenden.“ Dass dieser Satz von einem so erfolgreichen Schriftsteller kommt, ist doch schon mal eine große Erleichterung. Für mich ist das Schreiben eine Hassliebe. Ich liebe den Prozess und könnte nie etwas anderes tun als Schreiben, aber der Weg zum fertigen Text ist manchmal eine richtige Qual. Danach habe ich dann oft ein unglaubliches Triumphgefühl, das ungefähr eine Stunde anhält, bevor es wieder losgeht mit dem Stress und der Versagensangst und dem Kampf gegen die ständigen Zweifel. Vor allem habe ich Angst vor Einfallslosigkeit, obwohl man ja eigentlich weiß, dass die Ideen irgendwann schon wieder kommen. Aber manchmal habe ich tagelang überhaupt keine Einfälle, dann ist jeder Satzanfang eine Folter.

„Schreiben ist bei mir schon auch die klägliche Sehnsucht danach, irgendetwas Unsterbliches zu hinterlassen“

Mercedes: Irgendwie ist diese Angst, nichts Gutes oder gar nichts mehr schreiben zu können ja auch eine Angst davor, von der Bildfläche zu verschwinden. Schreiben ist bei mir schon auch die klägliche Sehnsucht danach, irgendetwas Unsterbliches zu hinterlassen und mich in eine ewige Verbindung zu setzen mit den Menschen und der Welt. Und natürlich eine psychohygienische Strategie des Druckablassens. Der Versuch, diese ganzen anstrengenden Gedanken und Gefühle in mir drin irgendwie in eine äußerliche Form zu bringen, um sie auszuhalten, auszusortieren, irgendwie Ordnung und Licht in das Chaos zu bringen. Und umso schlimmer, wenn man dann an Satzanfängen scheitert, die Worte nicht kommen und erst recht nicht fließen, und man dann wie verstopft ist. Manchmal empfinde ich tatsächlich so ein körperliches Jucken und will einfach explodieren oder mich irgendwie aufschlitzen, damit alles raus kann.

Claire: Bei mir hilft da tatsächlich der Klassiker, morgens eine Runde laufen zu gehen (auch wenn mich mein Schweinehund immer wieder gern davon abhält). An der frischen Luft kann ich immer ganz gut meine Gedanken sortieren. Außerdem habe ich danach das Gefühl, zumindest schon mal irgendwas geleistet zu haben. Das ist das Gute am Laufen, man rennt los und am Ende kommt man an. Ich wünschte manchmal, beim Schreiben wäre es auch so, aber vielleicht hätte es dann auch keinen Reiz mehr für mich, vielleicht wäre es dann mehr wie Fließbandarbeit und weniger künstlerisches Schaffen. Ich glaube, was Kreatives zu machen ist immer wie ein Gang durchs Labyrinth, man sucht den Weg und läuft manchmal in eine Sackgasse, und irgendwann findet man heraus und fragt sich, wieso man hier nicht schon viel früher angekommen ist. Diese Momente, in denen man sich auf den Boden setzt und keine Lust mehr hat, weiterzulaufen, gehören aber wohl einfach dazu.

Mercedes: Wie gehst Du eigentlich so mit Zweifeln an Deiner eigenen Arbeit um? Ich zweifle ja grundsätzlich furchtbar viel an meinen Texten, auch im Nachhinein noch, wenn sie längst gedruckt oder veröffentlicht sind, und irgendwie wird das einfach nicht besser, auch nach fünf oder sechs Jahren beruflichen Schreibens nicht. Das nervt mich. Ich brauche dringend eine Strategie dagegen!

Claire: Oh, das kenne ich. Ich zweifle von morgens bis abends an allem. Ich finde es unfassbar anstrengend, fast nie mit mir zufrieden zu sein – gleichzeitig will ich das aber auch gar nicht sein, weil Zufriedenheit meiner Meinung nach unproduktiv macht. Manchmal muss ich mich selbst kneifen und mich daran erinnern, was ich schon alles geschafft habe. Man denkt ja immer nur an das, was man noch nicht geleistet hat. Und glaubt prinzipiell, alle anderen seien viel produktiver und fleißiger als man selbst.

Mercedes: Beim One-Man-Bloggen stelle ich mir das noch schwerer vor, mit den eigenen Texten dauerhaft befriedet zu sein und nicht Tag und Nacht zu grübeln, ob das jetzt doch irgendwie Mist war, den man da aus so einer Laune heraus ins Internet getippt. So ganz ohne Schlussredakteur, der nochmal drüber liest und sagt: Naja, also, Claire, das ist jetzt aber irgendwie peinlich / unlustig / blöd, was du da in dem Absatz schreibst und die These, nee, das geht alles nicht auf, guck mal, mach’s doch lieber so beziehungsweise lass es einfach lieber.

Claire: Tatsächlich fühle ich beim Bloggen viel freier und weniger unter Druck, als wenn ich für eine große Zeitung schreibe. Klar, die Texte, die von drei Redakteuren, der Textchefin und dem Chefredakteur gelesen und redigiert werden, sind am Ende perfekter strukturiert und formuliert. Aber beim Bloggen genieße ich es, einfach selbst entscheiden zu können, wann mir der Text gefällt. Ich habe eine Meinung und einen Stil und zu beidem stehe ich. Natürlich gibt es auch Artikel, an denen ich verzweifele – das liegt dann aber meistens daran, dass ich mir vorher nicht so richtig Gedanken darüber gemacht habe, was eigentlich meine These sein soll. Das funktioniert mit einem schlauen Schlussredakteur natürlich viel besser, wobei ich finde, dass einen die Profis bei den Zeitungen auch ganz schön durcheinander bringen können mit ihren Verbesserungsvorschlägen. Und am Ende sitzt man da zusammengesackt vor seinem zerrupften Text und weiß gar nicht mehr, ob man je wieder etwas schreiben will. (Ok, das ist jetzt sehr dramatisch.)

Mercedes: Finde ich gar nicht zu dramatisch formuliert. Auseinandergerupfte Texte können einen mental zugrunde richten. Ich schreibe ja auch trotz (oder auch: wegen?) aller Selbstzweifel am liebsten einfach frei, ich hasse es, wenn mir jemand reinredet, erst Recht, wenn ich die Menschen, die es tun, nicht besonders mag oder sie insgeheim einfach nicht für kompetenter halte als mich. Ich denke auch immer: Wer weiß, was den oder die grad reitet? Ob die einfach nur schlechte Laune hat, in Eile ist, und mir dann den Text ruiniert, einfach nur so, obwohl er in Wahrheit vorher besser war? Oder mein Misstrauen gegenübervöllig glatt gebügelten Journalistenschulmenschen, die aus jedem Text einen charakterlosen Modelltext machen wollen. Andererseits bin ich aber auch oft demütig und dankbar für jemanden, der den Text nochmal poliert und vor allem kürzt (ich neige nämlich dazu, zu viel zu labern und mich zu wiederholen). Dann schmeiße ich alle Eitelkeiten über Bord und vertraue darauf, dass so ein erster, neutraler Leser viel besser beurteilen kann, ob der Text gut ist oder nicht. Das ist ein kompliziertes Thema. Manchmal denke ich, man müsste sich als Autor einen Redakteur des Vertrauens aussuchen dürfen. Das wäre für alle besser. Aber so läuft’s halt nicht, erst recht nicht in einer krisengebeutelten Einspar-Branche.

Claire: Die Eitelkeit ist bei mir definitiv auch ein Problem. Ich glaube aber, ohne einen Anflug von Eitelkeit und Selbstüberschätzung kann man gar nicht Journalist, Autor oder Blogger werden. Anders käme man ja auch gar nicht darauf, seine eigene Meinung ernsthaft für relevant zu halten. Vielleicht ist ein bisschen Eitelkeit sogar förderlich, denn irgendwie muss man ja auch einen eigenen Stil entwickeln. Wahrscheinlich ist es ein schmaler Grad: Man muss in gesundem Maße an sich selbst glauben und sich gleichzeitig regelmäßig von den Profis oder einem neutralen Leser die Meinung sagen lassen. Mir passiert es oft, dass ich in einem Text so versunken bin, dass ich gar nicht merke, wie verwirrt der sich anhört, wenn man ihn zum ersten Mal liest.

„Ich verliere ab einem gewissen Punkt die Kontrolle über mein Geschriebenes“

Mercedes: Ich finde, das ist aber auch das Schöne am literarischen Schreiben (oder am Bloggen): Man hat da noch diese Freiheit, frei von Regeln drauflos zu schreiben. Bei meinem Buch hatte ich das Glück, eine Lektorin zu haben, der ich weitestgehend vertraut habe. Weil so wirklich GANZ allein ein Buch schreiben, oder auch nur einen Text, das fände ich schwer. Ich verliere ab einem gewissen Punkt einfach die Kontrolle über mein Geschriebenes und lechze nach der Einordnung eines Menschen, dem ich eine gute Einschätzung zutraue.

Claire: Was tust Du eigentlich gegen Schreibblockaden?

Mercedes: Da habe ich mehrere Vorgehensweisen. Oft google ich ewig über Schreibblockaden, um mich mit dem Leid anderer Autoren zu beruhigen. Tatsächlich gibt es aber auch viele, die sagen: „Es gibt keine Schreibblockaden. Schreibblockaden sind Gejammer und Faulheit, ein LKW-Fahrer hat ja auch keine Fahrblockade. Legen Sie los, schreiben Sie, und irgendwann sind Sie fertig, Schluss mit dem kindischen Geheule!“ Wahrscheinlich stimmt das schon. Es kommt einzig und allein darauf an, dass man irgendwann anfängt. Und dann durchhält. Auch wenn es wehtut. Meistens klappt es dann sowieso schneller als gedacht. Und wenn nicht, dann dauert es eben zwei Tage oder zwei Monate oder zwei Jahre länger. Aber wenn man dran bleibt, wird es irgendwann fertig. Natürlich bleibt dann trotzdem noch genug Raum für Zweifel: Hätte ich es anders aufgeschrieben, wäre es dann besser gewesen? Wenn ich es erst morgen schreibe, wenn ich erst ausgeschlafen bin, wenn ich erst was Gutes gegessen habe, habe ich dann eventuell bessere Ideen als jetzt? Das ist schon ein tödlicher Gedanke: Dass man einen Text ja IMMER auch ganz anders hätte formulieren und aufziehen können. Das macht mich fertig. Jedes Mal.

Claire: Puh, das klingt ja echt nach einem richtigen Kampf! Wahrscheinlich ist aber auch genau das Dein Erfolgsrezept. Man merkt Deinen Texten an, dass Du über unterschiedliche Standpunkte nachgedacht und Dir am Ende (oder schon vorher?) einen ausgesucht hast, ohne die anderen deshalb für falsch zu erklären. Das ist mir zum Beispiel bei Deinem Artikel über Schönheitsoperationen aufgefallen, den fand ich großartig! Ich selbst denke immer gar nicht erst so weit. Ich habe eine These und die schreibe ich auf und wer was dagegen hat, der kann unterm Text kommentieren. Elisabeth Raether von der ZEIT hat schon öfter Texte von mir redigiert. Sie meinte einmal zu mir, es wäre nicht schlimm, einen Standpunkt anzunehmen und dafür andere zu vernachlässigen – oft wäre es sogar extrem hilfreich, um dem Text einen roten Faden zu geben, weil sonst ein heilloses Durcheinander daraus werde. Trotzdem kenne ich das Gefühl, nach Beendigung eines Textes plötzlich zu glauben, man hätte etwas ganz Grundlegendes übersehen. Was machst Du denn, wenn Du überhaupt nicht mehr weiterweißt?

Mercedes: Wenn ich akut das Gefühl habe, absolut nicht schreiben zu können, was ich eh immer habe, wenn die Deadline noch nicht arg genug drängt, mache ich halt tausend andere Sachen. Kochen, ziellos in der Stadt rumlaufen und mir geniale Ideen für Romane, Filme, Gemälde ausdenken, die ich später wieder als dämlich verwerfe. Essen gehen (ich liebe es, dekadent essen zu gehen, auch gern allein in höchster Not und dabei viel Wein zu trinken und mich darin zu baden, wie schlecht es mir geht und gleichzeitig, wie gut). Überhaupt: mich betrinken, oder mit meinem Freund rumhängen und ziellos mit ihm Auto fahren und von Berufen träumen, bei denen man nicht arbeiten muss und trotzdem reich wird. Schlafen (!), Trash-TV gucken oder Bücher und Filme oder Serien suchen, in denen Menschen an der Kunst leiden… Alles Mögliche halt, Hauptsache nicht schreiben. Und irgendwann muss ich dann anfangen. Meistens schreibe ich nachts oder spät abends im Bett eine erste Version, hacke so Gedanken in die Tastatur, und in den nächsten Tagen arbeite ich es dann ewig aus und um, bis es irgendwann, oh Wunder, fertig ist und ich es selbst gar nicht glauben kann.

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Wenn Mercedes nicht schreiben kann, geht sie kochen. Foto: Georg Taube/Splendido Magazin

Claire: Essen gehen ist bei mir auch ein ganz heißer Trick gegen Schreibblockaden, überhaupt Blockaden aller Art. Ich kann auch nicht schreiben und erst recht nicht denken, wenn ich Hunger habe. Außerdem habe ich neulich festgestellt, dass es ungemein inspirierend und sehr beruhigend ist, allein im Restaurant zu sitzen. Das ist wie Meditation. Ich mache mein Handy aus und gucke mir die Leute an und esse was Gutes und horche so in mich hinein. Manchmal reicht es schon, eine halbe Stunde so da zu sitzen. Wenn ich am Schreibtisch festhänge und überhaupt nicht voran komme, gehe ich meistens raus, rennen oder spazieren, gerne auch am späten Abend. Ich muss auf jeden Fall ganz weit weg vom Computer. Oder einfach ins Bett. Ich habe schon oft abends Texte angefangen, bin stecken geblieben, wusste überhaupt nicht mehr, was ich sagen wollte – und am nächsten Morgen um 8 Uhr am Frühstückstisch kam die Erleuchtung.

Mercedes: Bei mir ist es auch immer so eine Sache, wo ich arbeite. Mein Freund und ich haben ein Büro, da ist es wunderschön, aber da kann ich genauso wenig IMMER schreiben, wie im Bett, in meiner eigenen Wohnung oder in der Bibliothek. Ist total stimmungsabhängig.

Claire: Geht mir genauso. Im Büro kann ich fast nie schreiben, nur Emails und kleine Sachen, aber keine großen Texte. Am liebsten schreibe ich im Bett, gerne auch Samstag morgens, wenn ich ganz viel Zeit habe. Neulich habe ich es zum ersten Mal geschafft, im Flugzeug zu schreiben, das war super, es gab kein Internet, das mich ablenken konnte, und ich kam mir total businessfraumäßig vor. Manchmal geht es auch ganz gut im Café, aber auch nur in bestimmten Läden. Als ich in New York gewohnt habe, saß ich immer in einem persischen Imbiss, bestellte einen Tee nach dem anderen, im Hintergrund lief persische Musik, nicht zu laut, nicht zu leise… es war der perfekte Ort. Wie ist das bei Dir eigentlich mit den guten Einfällen? Woher nimmst Du Deine Ideen?

„Verlass ist auf gute Ideen nicht. Wenn ich am dringendsten welche brauche, bleiben sie aus“

Mercedes: Wie meine Ideen konkret entstehen, kann ich gar nicht richtig auf den Punkt bringen. Liegt wohl in der Natur der Sache: Wenn es ein Geheimrezept gäbe, wäre die Ideenfindung ja kein Problem, über das man sprechen müsste. Verlass ist auf gute Ideen jedenfalls nicht. Wenn ich am dringendsten welche brauche, bleiben sie aus. Die „So, jetzt lese ich drei Stunden Zeitung und das Internet durch und dann habe ich eine Idee“-Strategie funktioniert bei mir überhaupt nicht. Wenn ich auf Zwang Ideen brauche, kommen mir immer nur so ganz grobe Themengebiete und mir fallen keine konkreten, ungewöhnlichen, interessanten Zugänge ein. Ich verlaufe mich dann total, denke alles tot und zweifle jeden Ansatz einer brauchbaren Idee an und falle am Ende wieder total auf Null zurück. Ich mag es deshalb ja auch wahnsinnig gern, wenn mich einfach eine Redaktion anruft und sagt: Könnten Sie bitte über dieses Thema schreiben? Und wenn mir das nicht total widerstrebt und ich Zeit habe, mach’ ich das und bin ganz selig, dass die mir die Arbeit der Ideenfindung abgenommen haben.

Claire: Ich bewundere ja immer diese klugen Leute, die auf wundersame Weise auf Ideen kommen, die gerade deshalb genial sind, weil sie so einfach sind. Ich dagegen sehe manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht. Mir fallen auch oft nur grobe Themen ein, z.B. „Frauen und der Einkaufswahn“, eher selten was konkretes, greifbares, was sich gut beschreiben lässt, sowas wie: „Was männlichen Einkaufsbegleitern durch den Kopf geht, während ihre Frauen in der Umkleide sind“. Solche alltagsphilosophischen Geschichten finde ich super. Aber selbst brauche ich ewig, bis ich auf so was komme. Generell finde ich auch für die Ideenfindung ein bisschen Freizeit zum Verschwenden extrem wichtig. Ich merke das immer, wenn ich im Urlaub bin: Nach nur zwei Tagen am Strand schreibe ich wieder mein Notizbuch voll. Und ich versuche prinzipiell, immer ganz aufmerksam zu sein – also, nicht nur andere Leute und das Weltgeschehen zu beobachten, sondern auch mich selbst und mein direktes Umfeld. Gerade heute habe ich mich total über meinen Freund geärgert, der sich (leider zu Recht) über meine Hose lustig gemacht hat, die ich daraufhin zurückgeschickt habe. Dabei fiel mir ein, dass das auch ein Thema für einen Artikel sein könnte: Wie wichtig ist die zweite Meinung?

Mercedes: Bei mir ist es ähnlich: Die besten Ideen kommen mir, wenn ich gerade überhaupt nicht aktiv auf der Suche nach ihnen bin. Ich laufe oder fahre rum und sehe etwas oder fühle etwas und denke intuitiv und sofort: Natürlich, darüber muss man was schreiben! Zack, Idee fertig. Und wenn ich dann ausnahmsweise noch nicht genau weiß, wie und mit welchem Fokus man das aufschreiben könnte, gehe ich in die jetzt-Redaktion und spreche mit Kollegen darüber (meine Lieblingskollegin bei jetzt.de ist Nadja Schlüter, auf deren Urteil und Konkretisierungsgabe ich immer vertraue). Überhaupt: Im Gespräch entstehen die besten Ideen. In Redaktionskonferenzen kommen mir auch oft die unerwartetsten Einfälle, einfach nur durchs Rumlabern. Oder abends mit Freunden beim Essen und Weintrinken. (Auch da muss ich wieder Nadja Schlüter ins Feld führen: Wein trinken mit Nadja Schlüter bringt immer Ideen hervor!). Oder natürlich mit meinem Freund, mit dem ich ohnehin oft zusammen arbeite. Tatsächlich sind viele meiner besten Ideen im Austausch mit meinem Freund entstanden, den ich für einen der intelligentesten und weisesten Menschen überhaupt halte. Er ist Fotograf, kann und weiß aber eigentlich alles. Er hat eine Art, die Welt zu beobachten und Phänomene zu analysieren, die mich immer wieder beeindruckt und die ich so noch nie bei jemand anderem erlebt habe: Scharfsinnig, mutig, immer gegen den Mainstream, auf eine Art auch bissig, aber gleichzeitig so sanft und wohlüberlegt, dass zumindest ich mir sofort denke: Klar! Genauso ist das. Wir greifen da ziemlich ineinander und sind uns gegenseitig meistens die besten Berater für alle Angelegenheiten. Wie ist das bei Dir: Holst Du Dir oft Rat?

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Noch ein Bild von Georg Taube, der Fotografen-Hälfte des Splendido Magazins

Claire: Ja und Nein. Ich spreche mit meinen Freunden oder erfahrenen Redakteuren – am liebsten mit Elisabeth Raether – gerne über Ideen, die mir so im Kopf herumspuken, von denen ich aber nicht sicher bin, ob und was man daraus machen könnte. Aber wenn ich mal einen Geistesblitz-Einfall habe, von dem ich total überzeugt bin, behalte ich den lieber für mich. Vielleicht entgehen mir dadurch wertvolle Zweitmeinungen. Auf der anderen Seite erspare ich mir auch viel Gezweifel und Verwerfen von Thesen, die vielleicht einfach nur Geschmackssache waren. Mein Freund, der auch Journalist ist, ist da eine Ausnahme. Einerseits kann er mich mit seinen Einwänden manchmal in den Wahnsinn treiben, was allerdings daran liegt, dass er meistens viel differenzierter denkt als ich. Ich neige oft zu Radikalität und beharre stur auf meinen Ansichten: Doch, doch, so ist das! Mein Freund widerspricht mir dann, sagt: Aber denk’ noch mal darüber nach, und Hast Du schon mal überlegt, ob… Und schickt mir noch Artikel und Videos zum Thema. Dieser Austausch fordert mich einerseits sehr heraus, bringt mich aber auch extrem weiter. Ich habe das vorher noch nie mit jemandem so erlebt. Lustig, dass Du mit Deinem Freund auch so eine Art Seelenverwandtschaft hast. Es gibt ja interessanterweise viele Künstler- und Journalistenpaare. Schreibst Du eigentlich lieber journalistisch oder literarisch?

Mercedes: Ich mag die Kategorisierung von Geschriebenem nicht, was mich wohl zu einer schlechten klassischen Journalistin macht, weil ich es hasse, mich todernst an Fakten zu halten. Ich schreibe deshalb auch eigentlich nie Fakten-Texte oder andere streng an akribische Tatsachen-Recherche gebundene Textformen. Überhaupt kann ich weder beim „journalistischen“ noch „literarischen“ Schreiben nach Plan arbeiten. Das war schon früher in der Schule so, wo man immer so Gliederungen machen sollte, bevor man anfing zu schreiben. Konnte ich nicht. Ich kann nur im Schreiben denken und strukturieren. Ich hab also immer völlig chaotisch und in nahezu unleserlicher Sauklaue mindestens 16 Versionen angefertigt, bis ich eine hatte, die mir gefiel, jedes Mal ein total drauflosimprovisiertes Glücksspiel. Deshalb brauche ich für das Schreiben auch immer so lang und schreibe auch oft viel zu lange Texte. Weil ich völlig ungehemmt drauf los fabuliere und dann am Ende nicht weiß, welche Sätze gut sind und welche schlecht.

Claire: Schreiben als Glücksspiel – super! Genau so ist es. Ich schreibe auch nie nach einem vorgefertigten „Einleitung – These – Fazit“, das finde ich erstens langweilig, weil die Struktur so durchschaubar und irgendwie gar nicht kreativ ist, und zweitens, weil sich das eine aus dem anderen sowieso meistens erst beim Schreiben ergibt. Manchmal komme ich mir beim Schreiben vor, als stünde ich vor einem Automaten, in den ich wahllos ein paar Münzen werfe und ein paar Tasten drücke, und am Ende kommt unten was ganz Überraschendes raus. Allerdings habe ich gerade im letzten Jahr, in dem ich an einem sehr komplizierten, sehr persönlichen Text gearbeitet habe, gemerkt, dass es total wichtig ist, zu wissen, was der Konflikt ist, den man im Text beschreiben will, bevor man damit loslegt. Ich wusste das bei diesem Text vorher nicht, hatte einfach ein paar grobe Ideen und Situationen im Kopf, die ich beschreiben wollte, und habe dann ohne Plan losgeschrieben. Am Ende wucherten meine Gedanken wie ein Krebsgeschwür in alle Richtungen – der totale Horror. Sag mal, Mercedes, seit wann schreibst Du eigentlich?

„Ich hab mir immer gesagt: Vergiss es, Mercedes. Wenn du eine echte Autorin wärst, wäre dir das früher eingefallen“

Mercedes: Das ist eine gute Frage. Ich habe, bis ich ungefähr 21 war, kein einziges Mal darüber nachgedacht, beruflich zu schreiben. Ich wollte Kunst studieren, oder Produkt- und Modedesign. Trotzdem habe ich schon immer geschrieben. Meine Oma ist Grundschullehrerin, die habe ich schon im Kindergarten genötigt, mir das Lesen und Schreiben beizubringen. Ich hab dann immer Bilder gemalt und dazu Geschichten geschrieben. Oder fiktive Briefe an fiktive Menschen geschrieben oder fiktive Tagebücher anderer Menschen verfasst. Ich hab oft auf dem Blatt meine Sehnsüchte durchgespielt, zum Beispiel, dass ich eine Zwillingsschwester oder vier ältere Schwestern hätte, dass ich Eltern hätte, die mit mir um die Welt reisen, sowas. Mit 14 habe ich dann auf jetzt.de gebloggt, als User konnte man da ja unter Pseudonym Tagebuch schreiben, und das war dann wirklich richtig tagebuchmäßig und weniger fiktiv. Ich habe mich aber NIE als Autorin gesehen, wirklich nie. Eigentlich merkwürdig im Nachhinein. Das kam erst während meiner Reisen nach dem Abi. Da habe ich Tag und Nacht geschrieben und einmal sogar geträumt, dass ich bei jetzt.de als Autorin arbeite. Völlig verrückt, oder? Ich hab mich daraufhin wirklich da für ein Praktikum beworben, ohne auch nur im Geringsten daran zu glauben, dass das funktioniert. Ich hab mir immer gesagt: Vergiss es, Mercedes. Wenn du eine echte Autorin wärst, wäre dir das früher eingefallen. Dann wärst du in der Schülerzeitung gewesen oder hättest mit 12 schon bei Jugend schreibt mitgemacht. Wie war das bei dir? Du hast ja schon mit 17 oder so bei Les Mads gearbeitet, wenn ich mich richtig erinnere?

Claire: Ich habe tatsächlich schon ziemlich früh angefangen zu schreiben. Meinen ersten Text habe ich ein paar Monate nach der Einschulung in ein kleines lilafarbenes Notizbuch geschrieben, es ging um ein Mädchen, das allein im Wald wohnt. Jedes zweite Wort war falsch geschrieben und die Geschichte hatte überhaupt keinen logischen Zusammenhang, aber ich war total stolz darauf. Schrecklicherweise ist dieses Notizbuch verloren gegangen, ich würde zu gern mal wieder darin lesen. In der Schule war Deutsch immer mein Lieblingsfach. Dass ich Journalistin werden wollte, war mir allerdings erst später klar. Eigentlich wollte ich immer Architektin oder Modedesignerin werden. In der zehnten Klasse haben wir dann einmal im Erdkundeunterricht eine fiktive Klimakonferenz abgehalten, mit verschiedenen Akteuren wie Politikern, Umweltschützern – und Journalisten. Die sollten über die Konferenz berichten. Keiner wollte das machen – außer mir. Ich habe mich richtig ins Zeug gelegt. In der 11. Klasse habe ich die Redaktion der Schülerzeitung geleitet, und spätestens da war klar, dass ich irgendwas in die Richtung machen wollte. Hast Du eigentlich irgendwelche großen Vorbilder, berühmte Autoren, die Du inspirierend findest oder von denen Du Dir sogar manchmal was abguckst?

Mercedes: Die erste Autorin, die mich so richtig beeindruckt hat, war Marie Pohl. Damals war ich 16. Sie hatte gerade das Buch „Maries Reise“ geschrieben. Reisen und dann ein so gefühlvolles Buch darüber schreiben, das wollte ich auch. Aber wie gesagt: Ich dachte, so was sei für mich nicht vorgesehen. Als ich dann aber tatsächlich anfing, „professionell“ zu schreiben, entdeckte ich schnell Marc Fischer (der sich leider ausgerechnet an meinem Geburtstag im Jahr 2011 umgebracht hat). Seine Art zu schreiben war genauso hybrid und zerrissen, wie ich mich immer fühle: Halb journalistisch, halb literarisch, sehr lebensnah und immer von einer unbestimmten Sehnsucht begleitet. Meine nächsten großen Lieben waren dann Herrndorf und Céline und ganz neu ist gerade Mercè Rhodorera.

Claire: Was würdest Du eigentlich machen, wenn Du nicht schreiben würdest?

Mercedes: Da fallen mir immer nur ähnlich brotlose Dinge ein: Malerei, Installationskunst/Videokunst, Produkt- oder Modedesign. Gern auch Forscherin an der Uni, Fachrichtung Europäische Ethnologie. Für die wissenschaftliche Arbeit bin ich aber nicht akribisch und geduldig genug. Deshalb könnte ich auch kein Schreiner werden oder so ein richtig idealistischer Arzt oder Jurist – dabei stelle ich mir das manchmal irre erfüllend vor. Und Du?

Claire: Ich habe vor ein paar Jahren mal „Saturday“ von Ian McEwan gelesen, darin geht es um einen Neurochirurgen. Seine Arbeit wird minutiös beschrieben. Danach wollte ich eine Zeit lang auch Neurochirurgin werden. Aber tatsächlich bin ich viel zu ungeduldig, um auch nur länger als zwei Stunden irgendwas auswendig zu lernen. Das Medizinstudium wäre also schon mal nichts für mich. Generell bin ich ein Mensch der Praxis und liebe es, irgendwas was zu basteln oder mit den Händen zu machen. Wahrscheinlich würde ich also fotografieren oder illustrieren oder Häuser einrichten. Gastronomie finde ich auch toll. Wenn es mit dem Schreiben nichts wird, eröffne ich ein libanesisches Restaurant.

Fotos ganz oben: Juri Gottschall (Mercedes) und Vanessa Jackman (Claire)