Dschungel für Anfänger

ZWEI WOCHEN IM VIELLEICHT GRÖßTEN TOURISMUSTRAUM ALLER ZEITEN

75020024 KopieIch weiß gar nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, nach Brasilien zu fahren. Im Moment fahren ja alle nach Bali oder auf die Malediven, und da machen sie Yoga und posten Bilder aus dem Paradies, das anscheinend aus badewannenwarmem Wasser und farblich passenden Swimming Pools besteht. Aber irgendwie reizt mich dieser Paradiestourismus überhaupt nicht. Ich wüsste nicht, wie ich mich eine Woche lang auf den Malediven beschäftigen sollte.

Mit 11 las ich Maja oder als Miss Minton das Korsett in den Amazonas warf, ein großartiger Roman über ein englisches Waisenmädchen, das im Jahr 1910 durch Zufall zur verschollenen Verwandtschaft nach Manaus kommt. Beim Lesen entspann sich vor meinen Augen eine tropische Regenwaldkulisse mit über dunkelgrünen Flussarmen baumelnden Lianen und wilden Orchideen und Bäumen mit sonnenschirmgroßen Blättern und fleischfressenden Pflanzen und Menschen mit braunen Tropenhüten, die auf Holzbooten stehend über den Amazonas paddelten. Und daneben Manaus mit seinen Kolonialbauten und dem Opernhaus nach französischem Vorbild. So klang das Brasilien meiner Fantasie, und es klang gut.

Wenn man einmal dort war, ist es schwierig, sich an seine einstige Vorstellung von einem Land zu erinnern, weil sich jetzt immer die tatsächlichen Erlebnisse vors innere Auge schieben. Aber vielleicht war es das, was mich schon immer an Brasilien reizte: die Mischung aus exotischer, ungezähmter Natur – riesigen Flüssen, saftigen Regenwäldern, gezackten Gebirgen – und pulsierender Großstadt mit Betontürmen, Jazz in den Bars, Samba auf der Straße und kultivierten Menschen, die in von Oscar Niemeyer entworfene Universitätsgebäude und Museen gehen.75050011 Kopie75050008 KopieDas mit den Betontürmen stimmte schon mal, so viel konnte ich bei der Fahrt vom Flughafen nach São Paulo feststellen. Wir fuhren an sandfarbenen, kastenförmigen Häusern vorbei, über Balkonbalustraden quollen riesige dunkelgrüne Blätter, darüber funkelte ein knallblauer Himmel, und irgendwie fühlte ich mich gleich ganz wohl.

São Paulo ist das, was man als Moloch bezeichnen würde. Die Stadt ist riesig, wie riesig, das verstanden wir erst gar nicht, als wir aus unserem idyllischen Airbnb-Häuschen mit Garten und Efeubewuchs traten. Wir mussten nur eine große Straße überqueren, schon war da ein schönes Deli, in dem es Burger und knusprige Pommes mit Rosmarin zu essen gab, und so richtig weit weg kamen uns Berlin oder New York da gar nicht vor, dabei gab es Wassermelonensaft zum Burger.75050004 Kurz vor der Reise hatte ich für das ZEITmagazin noch ein Interview mit dem Künstler Christoph Niemann geführt, der seine Eindrücke auf Reisen immer zeichnerisch festhält. Eine Skizze zeigt einen Bus in Rio de Janeiro, mit der Anzeige „Copacabana“. In Rio, erzählte Niemann, habe ihn diese Alltäglichkeit erstaunt. „Man ist auf der anderen Seite des Planeten, und trotzdem gibt es Bushaltestellen, Parkplätze und Läden, und alles fühlt sich ziemlich normal an – nur steht auf dem Bus nicht Lichterfelde, sondern Copacabana.“

So ähnlich kam es mir vor, als ich in São Paulo durch den Stadtteil Pinheiros lief und alles ganz anders aussah und dann irgendwie doch nicht. Es gab einen Sonnenbrillenladen und mehrere schicke Restaurants und eine französische Brasserie und eine Boutique, in der man Seifen und Gartenstühle und brasilianische Mode kaufen konnte, die aussah wie von Rosie Assoulin. Vor der Bäckerei Padoca do Mani standen zehn Menschen und warteten auf einen Tisch, und als wir endlich dran waren, gab es Avocado-Toast und Rührei mit Lachs, köstlich, aber es war der Guavensaft, der uns daran erinnerte, dass wir in São Paulo und nicht in Soho frühstückten. Und die freundlichen Kellnerinnen, von denen keine Englisch sprach.

Ich fand alles herrlich: die Avocado-Toaste und Guaven-Säfte und die hügeligen Straßen von Pinheiros und Vila Madalena mit den Klötzen aus schmutzigem Beton und den gekachelten Fassaden und verknäuelten Stromkabeln über dem Asphalt, die Palmenwedel, die feine Schatten auf die Gehwege malten, die saftig grünen Gewächse und knorrigen, großblättrigen Bäume, deren Namen ich nicht kannte, die bunten Käfer, die vor roten Bungalows parkten und das marienblaue Haus mit den Rosen und Kakteen vor der Tür und die Dachterrasse des Hotel Unique, deren 180-Grad-Ausblick auf die schwarze, glitzernde Blade-Runner-Kulisse der Stadt einen Eindruck von der Unzähmbarkeit dieses Dschungels im Dschungel gab – concrete jungle, so nennen sie São Paulo hier.75000031 KopieIch fand alles herrlich und hatte gleichzeitig das Gefühl, irgendwas falsch zu machen. Denn war das hier wirklich Brasilien, dieses ferne Land auf der anderen Seite der Erde und des Äquators? Alles kam mir so cool und hippie-schick und amerikanisch vor. Dabei ist Brasilien eigentlich gerade gar nicht nach Hippie-Schick zumute. An dem Tag unserer Ankunft fand die Wahl zur Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff statt. Durch die Straßen des Centro stampften Menschen in gelben Trikots und wüteten gegen die Regierung. In Brasilien, dem einstigen Boomland, herrscht Wirtschaftskrise. Die Menschen sind frustriert, die Präsidentin der Sündenbock, die gefeierte Opposition dabei nicht minder skandalös. Als wir im Parque do Ibirapuera, dem Central Park von São Paulo, am Seeufer standen und auf die Türme der Skyline schauten, überhörte ein junger blonder Typ unser Gespräch und stellte sich als Sohn deutscher Einwanderer vor. Er sei in São Paulo aufgewachsen und mache gerade an der deutschen Schule sein Abitur. Wir fragten ihn nach seinen Plänen. Er wolle gerne in Deutschland studieren, sagte er. Und danach zurück nach Brasilien?, fragte ich. „Auf keinen Fall!“

Kurz gesagt, ich hatte das Gefühl, an der Realität Brasiliens vorbei zu urlauben. Es dauerte ein paar Tage, bis mir klar wurde, dass daran nichts verkehrt war. Man macht schließlich nicht Urlaub, um die Welt zu verändern. Bloß ist dieser weltverbessernde Geheimtipp-Tourismus, also der, bei dem sich Touristen wie locals zu benehmen versuchen, an Brunnenbauprojekten mitwirken, bei wildfremden Leuten auf der Couch schlafen, sämtliche Massentourismusattraktionen meiden und das Ganze dann Urlaub nennen, mittlerweile so hip geworden, dass man allen Ernstes das Gefühl bekommt, was zu verpassen, wenn man mit 40 anderen Ausländern auf einer Hoteldachterrasse die Skyline bestaunt. Müssten wir nicht wilder, echter, authentischer urlauben? Müssten wir uns nicht mehr anstrengen, diesem Land hinter die Fassade zu schauen? Müssten wir nicht gerade ausschließlich mit Rucksack bekleidet durch den Regenwald stapfen, mal in einer Favela vorbeischauen, eine brasilianische Zeitung lesen, mit Straßenkindern Samba tanzen oder in einem ortstypischen Restaurant eine seltene Variation von Feijoada essen?75050015 Kopie„Sind wir offen genug?“, fragte mich mein Freund zur Halbzeit, als wir uns in einem bequemen Uber Black zum Flughafen von São Paulo kutschieren ließen, um weiter nach Rio de Janeiro zu fliegen. Die letzten drei Tage hatten wir mit Freunden auf der Ilhabela einige Autostunden von São Paulo entfernt verbracht. Die Insel gleicht einer Filmkulisse von Fluch der Karibik: weißer Sand, türkisfarbenes Wasser, dichte Palmenwälder. Am ersten Tag duschten wir unter Beobachtung einer riesigen Spinne unter einem Wasserfall und ließen uns anschließend von den Mücken auffressen. Wir aßen brasilianischen Fischeintopf in einem menschenleeren Restaurant und fetttriefende Sandwiches in einem Bauarbeiterimbiss, bevor wir das romantische Strandlokal Allmirante entdeckten, in dem es Shrimps in Kokoskruste zu essen gab. Und eines Abends saßen wir plötzlich alle regungslos am Strand und sahen die Sonne ins Meer hinabtauchen und dachten an gar nichts. Ja, wenn ich es recht bedachte, so fand ich uns schon ziemlich offen. Und überhaupt: korrekt Urlaubmachen geht sowieso nicht.

Und so lagen alle Zweifel hinter mir, als ich einen Tag später endlich am Strand von Ipanema saß – ja, saß, nicht lag, denn in Ipanema wird nicht gefaulenzt. Es gibt viel zu tun: Kokoswasser trinken, Fußball spielen, Haut einölen, Körper zur Schau stellen, Körper beobachten. Und natürlich schwimmen im erstaunlich kristallklaren Atlantik. Nur zum Lesen kommt man nicht, denn es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm: schwer bepackte Händler bieten Tücher, Sonnenbrillen, Eis oder gegrillten Käse feil, Freundinnen sitzen wild gestikulierend im Stuhlkreis, drahtige Jungs pritschen Bälle übers Netz. Ich hätte nie gedacht, mich in solch einem Ambiente wohl zu fühlen. Normalerweise versuche ich mich am Strand mindestens 120 Armlängen vom nächsten Menschen entfernt zu platzieren.75020005 Kopie Aber in Ipanema gefiel mir das Durcheinander. Denn so gern die Brasilianer offenbar menschliche Nähe schätzen, so entspannt gehen sie damit um. Weil fast alle mit höchstens briefmarkengroßen Badehosen herumlaufen, fühlt man sich als Frau angenehm unbeobachtet – nacktes Fleisch ist schließlich im Überfluss vorhanden. Die Menschen sind schön, die Luft salzig und das Wasser frisch. Der Strand ist gepflegt: beim Uferspaziergang läuft man hier nicht Gefahr, aus Versehen in eine Pommesschale zu treten. Grölende Proleten mit Ghettoblaster gibt es auch nicht. Und dann thronen am Fuß des Strandes auch noch diese imposanten Zwillingsberge. Ungefähr zwei Tage lang hielt ich mindestens einen der beiden für den Zuckerhut, so erhaben wirkte ihr Anblick. Am Abend liegen sie in zartem Dunst, dazu brausen gelbe Taxen über die palmengesäumte Strandpromenade, und dahinter ragen die Sechziger-Jahre-Betonkästen in den Himmel, die, so massiv sie sind, doch ein herrlich pittoresker Charme umgibt.

Plötzlich war ich mitten drin in dem Bild, von dem ich beim Gedanken an Brasilien immer geträumt hatte. Ich kannte es aus dem Fernsehen, aus WM-Lageberichten und aus der berühmten Magnum-Fotoserie von Martin Parr. Vor der Reise hatten mir noch diverse Leute was von irgendwelchen geheimen, menschenleeren Paradiesstränden ein paar Autostunden von Rio entfernt vorgeschwärmt. Aber ich wollte nirgendwo anders sein als genau hier, mitten drin im vielleicht größten Tourismustraum aller Zeiten.75020012Genau so verbrachten wir auch die nächsten Tage in Rio: wie waschechte Bilderbuchtouristen. Wir gingen spazieren an der Copacabana, fuhren mit der Seilbahn auf den Zuckerhut, freundeten uns im Schatten der gigantischen Christus-Statue auf der Spitze des Corcovado mit einem Marathonläufer aus New York an, aßen Jakobsmuscheln mit Papaya-Guacamole bei Sushi Leblon, dem Sushi-Laden, den wirklich kein Reiseführer auslässt, probierten frische Litschis auf dem Wochenmarkt von Ipanema, zählten Fische im Teich des Botanischen Gartens, tranken literweise Melonensaft bei BB Lanches, schauten Fußball im Kultlokal Bar Jobi und tanzten im Nachtclub Carioca da Gema in Lapa etwas unbeholfen zur für deutsche Beine ungewohnten Sambamusik.

Und selbst als es just an meinem Geburtstag anfing zu regnen, verlor die Stadt ihren Zauber nicht: denn Rio de Janeiro ist viel mehr als nur irgendein Ort am Meer. Es ist ein brodelnder Suppentopf aus tausend Gewürzen, manchmal lieblich, manchmal scharf, manchmal unaufgeräumt wie New York, manchmal elegant wie die französische Riviera. Rio ist gemütlich und dabei total unübersichtlich, Rio ist sexy und farbenfroh und hysterisch und tiefenentspannt, und wahrscheinlich noch viel mehr als das, so wie überhaupt ganz Brasilien, dieses gigantische Land, aber dazu kann ich nichts sagen, denn nach zwei Wochen herrlichstem Touristenprogramm kennt man ja gerade so das Alphabet eines Landes, aber kaum seine Sprache. Und das ist auch gut so. Man braucht schließlich einen Grund, wieder zu kommen. 75000011 Kopie75000028 Kopie75050007 Kopie75040005 Kopie75050014 Kopie75050013 Kopie75000019 Kopie75000005 Kopie75000003 Kopie75050033 Kopie75000006 Kopie75050010 Kopie75020028 Kopie 75020030 Kopie 75020022 Kopie75020004 Kopie75020003 Kopie75020015 Kopie75020009 Kopie75020019 Kopie75020006 Kopie75010030 Kopie75010016 Kopie75010002 Kopie75010003 Kopie 75010004 Kopie 75010006 Kopie 75010014 Kopie 75010015 Kopie75010018 Kopie 75010023 Kopie 75010021 Kopie 75010031 Kopie 75010035 Kopie75020036 Kopie